Die Toten von Santa Lucia
heraus, wer den Mord an Zazzera in Auftrag gegeben hat. Dann wissen wir vielleicht auch, weshalb Zazzera überhaupt dran glauben musste. Mit dem Krieg der Clans scheint er jedenfalls nichts zu tun zu haben.« Er schob das Kinn vor und nickte wie zur Bestätigung.
Der Himmel war mittlerweile dunkelgrau verfärbt, die Straßen hatten sich geleert. Nur ein paar unermüdliche Skateboardfahrer nutzten die Gunst der Stunde, sprich die freien Flächen, um auf ihren Brettern halsbrecherische Sprünge zu üben.
»Außerdem haben wir mit einigen Leuten gesprochen, die Zazzera kannten«, fuhr Gentilini fort. »Er hatte offenbar nichts mit der Camorra zu tun. Er war ein Kleinkrimineller, der ab und zu ein bisschen gedealt hat, aber nie im großen Stil. Ich war bei ihm zu Hause, bei seinen Eltern. Er hat offenbar schon als Kind viel fotografiert und immer davon geträumt, für große Zeitungen oder Zeitschriften zu arbeiten. Vor fünf Jahren hat er von seinem Vater eine kleine Summe als Startkapital für ein Fotostudio bekommen, du weißt schon, Porträts, Aufträge für Hochzeiten und so weiter. Von dem Geld ist er ein halbes Jahr in die Sahara gefahren, um Fotos für ein Buch über die Wüste zu machen, für das er dann keinen Verleger fand. Leute wie Zazzera gibt es in Neapel viele. Mit ein bisschen Glück fallen sie immer wieder auf die eigenen Füße.« Er zuckte die Schultern. »Zazzera hatte offenbar keins. Ich habe die Mutter auch nach Luzie gefragt. Mit dem Namen konnte sie nichts anfangen, aber ihr Sohn hat erwähnt, dass er mit einer Deutschen zusammenwohnte. Und sie hat gesagt, dass er in den letzten Wochen ganz euphorisch war und sie immer dachte, jetzt wird alles gut, jetzt ist er auf der richtigen Bahn.«
Es donnerte, diesmal um ein paar Dezibel lauter.
»Ich habe die Artikel über Antonio gelesen, die du für mich ausgedruckt hast. Ich glaube, ich weiß, warum er erschossen wurde«, sagte Sonja übergangslos. »Ich hatte ja keine Ahnung von diesen Unterlagen, Gennaro! Wie wichtig sie waren!«
Der Commissario starrte sie irritiert an. »Wovon redest du? Was meinst du überhaupt? Und wen meinst du?«
»Zazzera natürlich.«
»Wieso Zazzera? Was hat der mit Di Napoli zu tun?«
»Ich rede von dem belastenden Material, das Antonio vor seinem Tod gesammelt hat. Seine Recherchen zum Verbleib der Erdbebengelder. In einem der Artikel ist die Rede von einem Manuskript, das Antonio veröffentlichen wollte, mitsamt der Namen von Drahtziehern, Verbindungsleuten, korrupten Politikern, Scheinfirmen und so weiter. Das Manuskript ist nach dem Mord verschwunden.«
»Ich weiß. Ich hab heute die Akte gelesen.«
Sonja schluckte. »Antonio hat damals eine Kopie der Unterlagen nach Hamburg geschickt.«
Gentilini hob die Hand und starrte sie an. »Moment mal. Was hast du da gesagt?«
»Damals habe ich den Umschlag nur kurz geöffnet, um nachzusehen, ob eine persönliche Mitteilung drin steckt, eine Postkarte oder so. Es war ja kurz nach Luzies Geburt, ich hatte wirklich andere Sachen im Kopf … Und als ich nichts fand, nicht einmal einen angehefteten Zettel oder ein paar persönliche Zeilen an mich, geschweige denn einen Brief, der erklärt hätte, weshalb er sich monatelang nicht gemeldet hatte, gar nichts! – habe ich den Umschlag wütend hinter den Schrank gepfeffert und beim Umzug in den kleinen Koffer gepackt und alles auf den Dachboden verbannt. Und dort hat Luzie das Zeug wieder ausgekramt und mir vor die Füße geworfen und dann mitgenommen. Das war der kleine Koffer, den ich in der Wohnung gefunden habe. Sie hat die Kopie, Gennaro, da bin ich mir ganz sicher! Die Kopie von Antonios Manuskript, das seit zwanzig Jahren verschwunden ist!«
Erst jetzt begriff Sonja die Tragweite des soeben Gesagten. Angst schoss in ihr hoch. Sie sah weder die Wolken noch den Blitz. Sie spürte nicht die Windböe, die heftig über den Platz fegte, und auch nicht die ersten vereinzelten Regentropfen.
Gentilini starrte sie ungläubig an. »Sag das noch mal!« Doch das war nur eine Floskel. »Das ändert einiges«, murmelte er sogleich, und seine Augen verengten sich. Er dachte nach. »Deine Tochter spricht noch nicht besonders gut Italienisch, oder?«
»Vor Neapel kaum. Jetzt kann sie vermutlich so viel, wie man in einem Monat lernt. Allerdings hat sie ein Talent für Sprachen.«
»Sie sucht ihren Vater. Sie ist neugierig. Die Unterlagen sind das Einzige, was sie von ihm besitzt und was sie zu ihm hinführen kann. Sehe ich das
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