Die Totenfrau des Herzogs
Mathilde verkehrt. Sie fürchtete sich nicht vor dem Schnaufen und wilden Gebaren der maurischen Pferde, die König Guilleaume so liebte, und auch die Höhe der Tiere machte ihr keine Angst. Doch das Tempo, welches die apulische Herzogin nun vorlegte, stellte Imas Reitkünste auf eine harte Probe. Im Galopp flogen sie dahin, erklommen beinah mühelos den Berg hinauf nach Noceria, und niemand sah sich nach ihr oder dem Dienstmädchen um, die sie beide auf nicht minder flotten Maultieren
saßen und sich vor Schaukelei kaum noch zu halten wussten.
»Warum muss es so schnell gehen?«, jammerte das Mädchen und klammerte sich an die Zügel, was ihr Maultier mit unwirschem Kopfschlagen beantwortete und vorwärtsschoss. Die Kleine schrie vor Angst - vorn galoppierte man rücksichtslos weiter in den Sonnenaufgang hinein, die Herzogin mit verbissenem Gesichtsausdruck an vorderster Stelle, den Blick nach Osten gerichtet … wo ihr geliebter Mann im Sterben lag.
Hinter der großen Kreuzung nach Neapolis ritten sie einen Bettler über den Haufen. Ima sah ihn stürzen, ein Schrei, er hob die Hand zum Schutz gegen die Hufe, dann hörte sie ein lang gezogenes Stöhnen. Die Soldaten preschten unbeirrt weiter. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus: Der Mann rührte sich nicht. Wut stieg in ihr auf, und energisch parierte sie ihr Maultier neben ihm durch. »Ihr könnt ihn doch nicht hier liegen lassen!«, brüllte sie der Gruppe hinterher, die just in dem Moment hinter der nächsten Biegung verschwand. Der Bettler lebte noch. Er stöhnte und brabbelte undeutliches Zeug, als sie neben ihm niederkniete und versuchte, knochig-magere Arme auseinanderzuziehen, die ein blutverschmiertes Gesicht bedeckten.
»Bist du verletzt? Lass dir helfen …«
»Verflucht seid ihr, hohe Herren«, kam es erstaunlich deutlich aus dem behaarten Gesicht, dann folgte eine Gestankswolke, weil der Mann seinen Mund öffnete und ekelerregendes Zeug ausspuckte, bevor er ächzend wieder auf den Rücken fiel.
»Lass dir helfen, Gott hat Erbarmen mit dir.« Mit den Fingern rührte sie an seine schorfige Wange. Er schloss die Augen, als könnte er nicht glauben, dass eine feine Dame ihn berührte. »Hat er das wirklich? Hat er nicht eher Erbarmen mit Euch?« Dann öffneten sich die Augen, und
Hass flackerte auf. »Sollte er nicht Erbarmen haben mit denen, die unbarmherzig sind, aber so tun, als wären sie barmherzig? Ich scheiße auf Eure Barmherzigkeit, ich scheiße auf …«
Ein Gertenhieb ließ Erdreich aufspritzen. Ima fuhr erschrocken hoch, und der Bettler verstummte.
»Hatte ich Euch erlaubt, hier anzuhalten?« Wie zwei spitze Messer durchbohrten Sicaildis’ Blicke Imas Kopf. »Hatte ich Euch erlaubt abzusteigen?«
»Dieser Mann wurde durch unsere Soldaten verletzt, ma dame .«
»Ihr wollt einen Bettler heilen und meinen Herzog warten lassen? Wollt Ihr das wirklich, Ima?« Die unverhohlene Drohung ließ einen kalten Schauder über Imas Rücken laufen. Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine Jahrmarktspuppe, die von Fäden hochgezogen wurde, und Herzogin Sicaildis hielt die Fäden in der Hand.
»Ihr steigt jetzt in Euren Sattel und unterbrecht unsere Reise nicht mehr, Ima von Lindisfarne.« Damit wendete sie ihren Isabell und preschte davon. Der Bettler lachte gackernd.
»Seht Ihr? Sie scheißt auf Euch. Gott scheißt auf uns alle - alle sind wir allein …«
Das Maultier hampelte herum, als sie aufsteigen wollte. In ihrer Wut wusste sie sich nicht anders zu helfen und zog ihm eins mit der Peitsche über, damit es stillstand. Kaum saß sie im Sattel, raste es bockend los und sprang über unsichtbare Hindernisse, um seine Reiterin loszuwerden, die sich, laut und unflätig fluchend, am Sattel festklammerte und schwor, niemals wieder irgendwem zu dienen und niemals wieder ein verdammtes Maultier zu besteigen.
Der Waldrand belächelte Ima und verriet ihr, dass Dienen
Teil des Lebens war und dass man stets bitter und teuer bezahlte, wenn man sich verweigerte.
Am Straßenrand lagen ein paar verfaulte Äpfel. Der Hengst versuchte, einen davon zu erwischen, und riss seinem Reiter die Zügel aus der Hand. Gleich darauf gruben sich seine Zähne gierig in das bräunliche Fruchtfleisch, und Saft troff aus seinen Maulwinkeln.
Gérard lächelte. Statt das Pferd für den Ungehorsam zu züchtigen, ließ er es gewähren, denn er war heute nicht auf Kampf aus. Die Spätsommersonne wärmte ihm den Rücken, Friede kleidete ihn von innen aus, und sein Herz
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