Die Totenfrau des Herzogs
wichtig war, leichtsinnig aufs Spiel setzte! Und niemandem hatte sie etwas gesagt - niemandem …
Dann fiel ihm ein, wer etwas wissen könnte. Sein Lauf durch das Lager glich einem Befreiungsschlag, jeder Schritt brachte Erleichterung, Luft in die Lungen, Luft ins Herz - in dieses verfluchte Herz, das doch ohne sie nicht sein konnte, das ohne sie sterben würde! Gérard stolperte, fiel zu Boden. »Schwächling!«, schimpfte er sich selbst, schwang sich auf die Füße, rannte weiter durch die graue Zeltstadt, deren kranke Hitze ein Fortkommen erschwerte, deren graue Gestalten ihn behinderten, anfassten, verlachten - er musste um sich schlagen.
Das befreite, brachte sagenhafte Erlösung. Ein Mann fiel, der nächste, noch einer. Bevor sie sich erholen und zurückschlagen konnten, rannte er um die nächsten Hütten herum und verschwand im Dunkeln. Der empörte Lärm blieb. Dann hatte er endlich das Zelt erreicht, in welchem der Mönch sich seiner Berechnung nach versteckt halten musste. Dieses Lager war schließlich nicht der richtige Ort für Frauen und für Betbrüder.
»Thierry!«, rief er durch die Eingangsplane. »Thierry, kommt heraus!«
Niemand rührte sich. Ja, waren denn alle Menschen verschwunden, die er suchte? Weiter hinten beim Olivenbaum hörte man Stimmen brummen, manche laut und heftig; offenbar waren die Beratungen um Roger Borsa immer noch zu keinem befriedigenden Ende gekommen. Oder er hatte sie bereits im Alkohol ertränkt. Jedermann wusste, dass Roger sich selbst für die Weiber Mut antrinken musste. Nur im Kampf brauchte er das nicht, da half ihm seine unglaubliche Skrupellosigkeit über seine Ängste hinweg.
Gérard hegte keine hohe Meinung von Roberts Sohn, obwohl er ihm so lange schon diente.
»Herr Gérard?« Eine dünne Stimme kam näher. »Herr Gérard - um Himmels willen …« Die Plane wurde zurückgeschlagen, und der Mönch stand vor ihm, mit verheultem, bleichem Gesicht und sorgenvoll aufgerissenen Augen. Die Kutte hing schief und entblößte eine magere Schulter voller blutiger Kratzspuren - der feinen Haut setzte das Ungeziefer in diesen Unterkünften böse zu. Wie mochte erst Ima aussehen! Er riss sich zusammen. Was interessierte ihn die dünne Haut eines Mönchs!
»Gérard, wo sind sie alle hin?«, flüsterte Thierry und fasste ihn am Ärmel. »Niemand ist hier im Zelt - ich bin allein, seit die Sonne unterging - selbst die Herzogin ist fortgegangen, und ich wagte nicht, ihr nachzugehen …«
»Wo ist Ima?«, fragte er heiser. Ohne nachzudenken, packte er Thierrys Schultern. »Wo ist Ima hin, Ihr wisst es, sagt es mir!« Der Kopf des kleinen Mönchs schwankte hin und her, und es hatte den Anschein, als ob er gleich abbrechen würde - Gérard hielt mit Schütteln inne. Der arme Kerl war doch unschuldig, konnte nichts dafür. »Wisst Ihr, wo sie hinwill? Sie nahm ein Pferd und ritt in die Nacht - sie ist wahnsinnig! Sagt mir, wo sie hinwill, Mann!«
Die großen, ausdrucksvollen Augen rundeten sich. Grau mit einem Schimmer Grün, eine ungewöhnliche Farbe, schwatzte die Fackel neben dem Zelteingang. Umrahmt von langen, seidigen Wimpern, ungewöhnlich für einen Betbruder, kicherte ihre brennende Schwester. Und Tränen ziemten sich auch nicht für das Gemüt eines Mönchs. Gérards Griff lockerte sich. Thierry war zu zerbrechlich für seine Faust, das spürte er wohl trotz seiner grenzenlosen Aufregung.
»Gérard«, hauchte der Mönch. »Sie wollte …«
»Ja …«, unterbrach er ihn atemlos. »Was wollte sie? Sagt es mir doch!«
»Sie wollte - Marius - der junge Marius - der Plan - ach, schrecklich …« Er barg das Gesicht in seinen mageren Händen und stieß lateinische Worte hervor, die keinen Sinn ergaben - außer für Gott, falls er zuhörte.
Gérard neigte sich zu dem Kleinen. »Was wollte Marius? Sagt es mir - was wollte er? Wo reitet Marius hin?« Seine Hand glitt über die schmale Schulter und den Rücken herab, der sich so merkwürdig rund und wohlgeformt anfühlte …
»Marius de Neuville reitet nach Limnaia, um Graf Bohemund zu töten«, flüsterte Thierry hinter den Händen. »Ich hörte das - ich hörte von den Plänen, Gérard. Feige Mordpläne. Ima hörte es auch, sie - sie reitet ihnen nach.« Er hob das Gesicht. Tränen liefen ihm über die Wangen, gruben tiefe Spuren in den Schmutz, der seit Kephalonia wie eine zweite Haut auf dem Gesicht saß und es viel älter wirken ließ, als es in Wirklichkeit war.
»Limnaia«, wiederholte Gérard heiser. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher