Die Totengräberin - Roman
ausgewechselt. Zärtlich und anschmiegsam, und sie behandelte Lukas äußerst liebevoll. Keine Spur mehr von der Gereiztheit zwei Stunden zuvor.
»Komm«, sagte sie und schnurrte fast, »lass uns nach Florenz fahren. Heute ist es bedeckt, nicht ganz so heiß, der ideale Tag, um ein bisschen zu bummeln.«
Lukas hatte fast den Eindruck, sie wollte ihn immer weglocken, wenn er einen Brief bekommen hatte. Von dem
ersten wusste sie, weil er in der Bar am Schwarzen Brett gehangen hatte. Die folgenden hatte er ihr verheimlichen können, und jetzt hatte sie ihm einen Brief eigenhändig überbracht. Und wie beim ersten Mal passte es ihm gar nicht, heute in Florenz herumzulaufen. Er brauchte Ruhe, wollte allein sein, denn dieses letzte Foto hatte ihn fast genauso erschüttert wie das Foto, auf dem er seinen toten Bruder zum ersten Mal sah.
Diesmal zeigte es nicht schon wieder Johannes’ Gesicht in Großaufnahme, sondern eine Totale mit dem Grab. Ein Grab, auf dem ein frisch gepflanztes Olivenbäumchen wuchs, das er selbst mit einem Pfahl stabilisiert hatte. Johannes war hier. In seiner Nähe.
Hatte wirklich ein Fremder hier auf La Roccia ein Grab ausgehoben? Vollkommen ungestört? Das wäre dreist, und es erschien Lukas eigentlich auch völlig unmöglich. Bei diesem steinigen Boden brauchte man Stunden, um ein derartig großes Loch zu graben. Magda war fast immer zu Hause. Zumal, wenn sie allein war. Sie fuhr höchstens mal eine Stunde weg, um kleine Einkäufe zu erledigen. Für ein derartig kompliziertes Unterfangen reichte die Zeit niemals. Auch wenn sie einen ganzen Tag in Siena gewesen wäre … Der Mörder war ja kein Hellseher und konnte nicht tagelang mit der Leiche auf die passende Gelegenheit warten.
Nein. Dass irgendein Fremder Johannes umgebracht und dann hier auf dem Grundstück »entsorgt« hatte, war völlig ausgeschlossen.
Oder doch Topo? Er hatte die Leiche hier vergraben, um die Tat ihm oder Magda in die Schuhe schieben zu können. Und dann konnte er diese Unverfrorenheit noch mit einer Erpressung toppen. Das war raffiniert, aber Topo
hätte mit dem Schaufeln des Grabes die gleichen Schwierigkeiten gehabt wie ein Fremder. Außerdem hatte er kein Motiv. Topo schied also auch aus.
Der Gedanke, der ihm jetzt durch den Kopf schoss, war so grauenvoll, dass ihm heiß wurde: Magda.
Er weigerte sich, weiter darüber nachzudenken und diese Vorstellung überhaupt zuzulassen. Aber es gelang ihm nicht. Der Verdacht keimte immer wieder auf, rotierte in seinem Kopf, und irgendwann konnte er sich nicht mehr dagegen wehren. Magda hatte Johannes umgebracht, vergraben und einen Baum auf seinem Grab gepflanzt. Und hatte das Märchen von Johannes’ Reise nach Rom erfunden. Sie war eine Wahnsinnige.
Und er saß jetzt noch mehr in der Falle als vorher.
Um vierzehn Uhr fuhren sie mit dem Zug von Montevarchi nach Florenz. Die Fahrt dauerte eine Dreiviertelstunde, und wenn man am Bahnhof Santa Maria Novella ankam, war man direkt im Zentrum der Stadt. Bis zum Dom waren es zu Fuß nur fünf Minuten.
Jetzt zur Mittagszeit war der Zug nicht voll. Die Schulkinder hatten Ferien, und die Italiener machten Siesta. Magda und Lukas fanden ohne Mühe zwei Plätze nebeneinander. Bis hinter Figline schwiegen sie. Lukas hielt Magdas Hand und massierte sanft ihre Fingerknöchel.
Er beobachtete sie, wie sie aus dem Fenster sah und gegen die Sonne blinzelte. Ihre Sonnenbrille hatte sie auf den Kopf geschoben, um zu verhindern, dass ihr die Haare ins Gesicht fielen. Wunderschön fand er sie in diesem Moment, ganz jung, ganz mädchenhaft. Es kann einfach nicht
sein, dachte er und spürte regelrecht einen Stich ins Herz, so eine Tat übersteigt jede Fantasie.
Zwanzig Minuten kämpfte er mit sich, aber dann nahm er allen Mut zusammen und sagte: »Magda, ich muss nach Deutschland.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Warum denn?«
»In der Firma geht es drunter und drüber.«
»Stand das in dem Brief?«
Lukas nickte. »Es sind etliche Aufträge weggebrochen, ein Lastwagen ist in den Vogesen in eine Schlucht gestürzt, und es gibt eine Steuerprüfung. Lauter unerfreuliche Dinge.«
»Wann musst du weg?«
»Spätestens Ende der Woche.«
Magda schwieg. Dann fing sie leise an zu weinen.
Lukas nahm sie in den Arm. »Komm doch mit! Lass uns zusammen fahren! Ich regle meine Sachen, und dann versuchen wir so schnell wie möglich wieder hierherzukommen.«
»Ich muss darüber nachdenken«, meinte sie nur, und dann sagte sie bis zur Einfahrt des
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