Die Totengräberin - Roman
hatten sich an das alljährliche Treffen der Biker gewöhnt wie an die Prozession zu Karfreitag, das feierliche Cena zu Ferragosto und das Feuerwerk zu Silvester. Die Biker gehörten dazu und stießen überall auf Sympathie, da die Italiener den Motorsport liebten und die Motorradfahrer sich in der Regel freundlich und höflich verhielten.
Carolina hatte gestern Abend nach sieben Stunden Fahrt kurz hinter Kufstein auf einer Wiese gezeltet und war heute früh bereits um acht weitergefahren.
Sie war jetzt bereits auf der Höhe von Modena, wo die Autobahn sechsspurig war. Auf der rechten Spur reihte sich ein Lastwagen an den nächsten, auf den beiden restlichen Spuren lieferten sich die Pkw erbitterte Wettfahrten, es war abenteuerlich, wie knapp die Italiener ausscherten und sich dann nach dem Überholvorgang wieder dreist einfädelten. Obwohl Carolina das Fahren auf der Autobahn gewöhnt war, ermüdete sie die extreme Konzentration.
Kurz vor Florenz staute sich der Verkehr. Sie fuhr verbotenerweise
auf der Standspur an den stehenden Wagen vorbei, und als es keine Standspur mehr gab, schlängelte sie sich zwischen den Autos durch die Mitte.
Carolina konnte nicht mehr. Sie hatte Durst, konnte kaum noch schlucken, so ausgetrocknet war ihr Hals, ihre Oberschenkel taten ihr weh, und der Rücken schmerzte. Aber das Schlimmste war die Müdigkeit. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, wollte aber so kurz vor dem Ziel keine Pause machen.
Die letzten vierzig Kilometer der kurvigen, engen und tunnelreichen Autobahn von Florenz bis zur Ausfahrt Valdarno waren eine Qual.
Unmittelbar nach der Abfahrt hielt sie vor einem Motel, nahm den Helm ab, trank einen Kaffee und kaufte sich dazu eine große Flasche Wasser.
Sie freute sich darauf, ihre schweren Stiefel auszuziehen, die Füße in einen eiskalten Bach zu halten, ein Bier zu trinken, vielleicht ein paar Bohnen aus der Büchse zu essen und dann einfach nur zu schlafen. Nichts weiter. Nur schlafen. Zwölf Stunden oder länger.
Zehn Minuten später fuhr sie weiter. Als sie auf dem großen Parkplatz vor dem Restaurant Leccarda ankam, wo in den nächsten zwei Tagen gefeiert werden sollte, waren schon fast fünfzig Harley-Fahrer versammelt. Carolina hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern, begrüßte den einen oder anderen, schwang sich dann erneut auf die Maschine und fuhr Richtung Castelnuovo Berardenga in die Berge.
Kurz vor San Gusmè bog sie in einen Feldweg ab, der zu einer Fattoria führte. Eine winzige Enoteca war offen, aber menschenleer. Die Regale reichten vom Fußboden bis zur Decke und waren prall gefüllt mit Wein, Vin Santo, Grappa
und Olivenöl. Außerdem gab es Salzgebäck, Gewürze, eingelegte Oliven, getrocknete Tomaten und die unterschiedlichsten Brotaufstriche für Crostini. Lebercreme, Artischockenpaste, Pilzsoße oder Hasenragout. Carolina suchte sich eine Flasche Wein und eine Tüte mit Keksen, getränkt in Avocadoöl, und wartete. Es wunderte sie, dass sich anscheinend niemand dafür zu interessieren schien, ob sie den ganzen Laden ausräumte und sich wieder aus dem Staub machte oder nicht.
Es vergingen bestimmt zehn Minuten, bis eine ältere, resolute, rundliche Frau auftauchte und Carolina herzlich begrüßte.
»Sie haben schon etwas gefunden?«
Carolina nickte und fügte in holprigem Italienisch hinzu: »… und ich habe noch eine Frage.«
Die Frau spürte, dass Carolina große Schwierigkeiten mit der Sprache hatte, und sagte: »Ich kann ein bisschen Deutsch. Vielleicht verstehe ich Sie.«
Carolina fiel ein Stein vom Herzen. Sie fragte, ob es irgendwo eine Möglichkeit gäbe, für drei Tage ein Zelt aufzuschlagen.
Als sie den Wein und das Gebäck bezahlt hatte, bat die Frau Carolina, ihr zu folgen, und führte sie auf eine Wiese oberhalb eines Weinberges.
»Für zehn Euro am Tag können Sie hierbleiben«, sagte sie. »Vor der Enoteca ist ein Hahn, da können Sie sich Wasser holen. Und bitte lassen Sie keinen Müll herumliegen.«
»Natürlich nicht. Ist doch selbstverständlich. Vielen Dank.«
Die Frau lächelte und ging.
Carolina schob ihre Harley auf die Wiese, baute ihr Zelt auf und war glücklich. Der Tag, der stressig begonnen hatte,
hörte jetzt so wunderbar auf, wie sie es nie zu träumen gewagt hatte.
Eine halbe Stunde später saß sie vor dem Zelt, löffelte kalte dicke Bohnen und trank dazu den Wein. Carolina liebte Bohnen. Sie konnte sie zu allen Tageszeiten in allen Variationen essen. Kalt oder warm, mit Salz und Pfeffer oder
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