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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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will ehrlich zu euch sein«, begann er, »Tatsache ist, dass Johannes verschwunden und bis zum heutigen Tag wirklich nicht wieder aufgetaucht ist.«
    Hildegard schluchzte leise auf.
    »Wir wissen nicht, ob er lebt oder ob er tot ist. Wir wissen überhaupt nichts. Es ist eine so schwierige, unvorstellbare, so unglaubliche Situation, mit der wir alle nicht fertig werden.«
    »Aber warum hat uns Magda am Telefon gesagt, er wäre wieder da? Warum hat sie uns erzählt, sie hätte ihn in Rom wiedergefunden?«
    »Weil Magda physisch und psychisch am Ende ist. Natürlich hat sie ihn nicht in Rom gefunden, aber sie bildet es sich ein, um nicht daran zugrunde zu gehen. Magda hat einen schweren Schock. Sie lügt am Telefon, weil sie die Wahrheit nicht ertragen kann. Das müsst ihr verstehen. Und deshalb will sie auch nicht nach Deutschland zurückkehren. Sie will nicht ohne Johannes zurückkommen, will auf ihn warten, und damit sie den Alltag überhaupt aushält, bildet sie sich ein, er wäre da. Manchmal glaubt sie, dass ich Johannes bin, und dann geht es ihr besser. Vielleicht hat sie auch deshalb am Telefon behauptet, er wäre wieder da. Weil sie mich mit ihm verwechselt. Es ist schlimm.«
    »Was glaubst du wirklich?«, fragte Hildegard.
    »Ich weiß es nicht. Ich verbiete mir, irgendetwas zu glauben. Manchmal denke ich, er ist einfach nur weggegangen, ohne ein Wort zu sagen, aber manchmal befürchte ich auch, dass er tot ist.«
    Hildegard starrte ihren jüngsten Sohn an und hörte auf zu atmen. Fast eine Minute lang. Dann fragte sie:

    »Sag mir, was du denkst. Nur du. In der Nacht, wenn du mit deinen Gedanken allein bist? Bitte, sei ehrlich!«
    »Ich glaube, dass er wiederkommt. Dass er irgendwann wiederkommt.« Er fühlte sich so mies bei dieser Lüge, aber er meinte, es seinen Eltern schuldig zu sein.
    Richard schnaufte. »Es passt alles überhaupt nicht zu Johannes.«
    Lukas zuckte die Achseln. »Ich habe in den letzten Monaten auch gedacht, dass ich meinen Bruder eigentlich nicht gekannt habe. Alles hätte ich ihm zugetraut, aber nicht das. Nicht, dass er einfach geht. Ohne ein Wort.«
    »Und das lässt Schlimmes vermuten.« Richard schnäuzte sich geräuschvoll.
    »Ist irgendetwas passiert?«, fragte Hildegard. »Hatte er Probleme mit Magda?«
    »Nein. Überhaupt nicht. Im Gegenteil.«
    »Hat er Thorbens Tod nicht verkraftet?«
    »Vielleicht. Obwohl es mir immer so schien, als käme er besser damit zurecht als Magda.«
    »Er hatte noch so viel vor …«
    »Ja.«
    Es vergingen bestimmt drei Minuten, in denen keiner ein Wort sagte.
    Schließlich stand Lukas auf, setzte sich auf die Sessellehne und nahm seine Mutter in den Arm.
    »Es wird gut«, flüsterte er, »alles wird gut. Das hab ich im Gefühl. Vor allem müssen wir zusammenhalten. Wir drei.«
    Seine Mutter weinte leise, aber er spürte, dass ihr seine Umarmung guttat.
    Dann sah er seinen Vater an.
    »Papa«, begann er, »die Lage ist unsicher, undurchsichtig, unvorhersehbar. Wir müssen uns überlegen, was mit
der Firma passiert. Wir können es nicht einfach so schleifen lassen, sonst geht der Betrieb kaputt.«
    Richard nickte und pickte Krümel von seiner Hose.
    »Ich wollte dich bitten, das Geschäft zu führen, bis Johannes wieder da ist. Oder so lange, bis ich wieder in Deutschland bin. Aber im Moment muss ich bei Magda in Italien bleiben. Sie ist derart neben der Kappe, da kann ich sie nicht allein lassen.«
    »Wie lange kann das dauern?«
    »Keine Ahnung. Monate.«
    »Lukas«, meinte Richard und malte auf einem Zettel kleine Karomuster, »ich bin achtundsiebzig. Seit acht Jahren war ich nicht mehr in der Firma. Wie stellst du dir das vor?«
    »Ich weiß, dass das keine leichte Aufgabe für dich ist, Papa.« Lukas’ Stimme war sanft und ruhig. »Aber ich wüsste keinen anderen. Keinen Besseren. Wenn sich einer auskennt, dann du. Es war deine Firma. Du weißt, worauf es ankommt. Und wenn dir die Arbeit über den Kopf wächst, dann stell einen Geschäftsführer ein, der alles macht und den du nur noch zu kontrollieren brauchst.«
    Richard schwieg nachdenklich.
    Lukas beobachtete seinen Vater. »Es soll ja kein Dauerzustand werden.«
    »Ja, ja, das hab ich schon begriffen.«
    Richard ging zum Schrank, öffnete eine Tür, hinter der sich eine Bar verbarg, und holte eine Flasche Cognac heraus.
    »Du auch einen Schluck?«, fragte er, während er die Flasche hochhielt, aber Lukas schüttelte nur den Kopf.
    Richard setzte sich an den Schreibtisch und goss sich ein

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