Die Totenmaske
telefoniert. Er war ihrer Bitte nachgekommen und hatte eine Besuchererlaubnis beim Haftrichter beantragt. Da er Zoe als ermittelnder Beamter begleiten würde, ging der Antrag relativ zügig über den Tisch. Leon hoffte, dass in einem Gespräch mit Zoe möglicherweise ein paar neue Informationen aus dem Jungen herauszubekommen wären. Allerdings schleppte er das Formular schon ein paar Tage mit sich herum. Der Gedanke, ihr zu begegnen, erzeugte Unbehagen in ihm. Er machte sich Vorwürfe, weil er sie auf dem Marktplatz etwas unterkühlt behandelt hatte. Sie zu küssen, war unprofessionell gewesen. Aber verdammt, er war auch nur ein Mann! Sie war in der Waldhütte so hinreißend gewesen. Regentropfen hatten ihr Gesicht benetzt, als läge ein silberner Schleier auf ihrer Haut. Als sie sich küssten, hatte Zoes anfängliche Zurückhaltung sich schon bald in wissbegierige Leidenschaft verwandelt, als wäre er ein neues Forschungsobjekt, das sie möglichst rasch erkunden wollte.
Er lächelte in die Schaumkrone seines Pils. Etwas unbeholfen war sie ihm vorgekommen, was wiederum im völligen Gegensatz zu ihrer sonst sachlichen Professionalität stand. Beinahe hätte er die Kontrolle über sich verloren. Der Gedanke daran erzeugte ein warmes Prickeln in Leons Leistengegend. Diese außergewöhnlichen Lippen, die sich anfühlten, als würden sie beim Küssen lächeln. Er verlagerte ein wenig die Position auf seinem Thekenhocker. Sein unterdrücktes Räuspern war sicher nicht die Folge einer trockenen Kehle.
Überraschend war jedoch Zoes Offenbarung gewesen. Nachdem er in ihr das flippige Tanzgirl aus dem Pydna wiedererkannt hatte, waren ihm im ersten Moment ernsthafte Zweifel an ihrer Unschuld gekommen. Auf keinen Fall hätte er sich zu diesem Kuss hinreißen lassen dürfen. Zoe empfand es sicher ebenso. Zumindest hatte sie kein Wort mehr darüber verloren. Allerdings wirkte sie etwas verunsichert, nachdem er auf dem Marktplatz versucht hatte, sich möglichst neutral zu verhalten. Schon auf der Rückfahrt im Auto, nachdem sie Josh erwischt hatten, war sie sehr zurückhaltend gewesen, was natürlich mit den ungewöhnlichen Umständen zusammenhing. Ihren besten Freund ständig verteidigen zu müssen, wenn Leon sie mit den Beweisen konfrontierte, war eine Sache. Joshs heimliche Vorliebe für sie und deren Auswirkungen hatten sie jedoch sichtlich mitgenommen. Allein dadurch dürfte ihr kleines Zufallsdate in den Hintergrund gerückt sein. Am Telefon hatte sie so reserviert geklungen, dass es Leon wiederum einen Stich versetzt hatte. Er musste sich langsam zusammenreißen und sie aufsuchen!
Seine Blase meldete sich. Die Toiletten befanden sich auf der anderen Seite der Theke hinter einem verzierten Holzgitter. Eine passende Gelegenheit, um sich den beiden Männern unauffällig zu nähern. Inzwischen unterhielten sie sich mit gedämpften Stimmen, was auf einen Themawechsel hindeutete. Leon rutschte vom Barhocker und ging am Tresen entlang. Schon während er näher kam, fing er Gesprächsfetzen der beiden Männer auf.
»Komm schon, Alter, schmeiß noch ’ne Runde! Ich bin voll pleite«, murrte der blondgelockte Mittzwanziger.
»Es ist erst Mitte des Monats«, erwiderte sein nicht viel älterer Kumpel und starrte in sein Whiskyglas.
»Die Stütze vom Amt reicht hinten und vorn nicht.«
»Dann such dir ’nen Job!«, kam es ungerührt zurück.
»Nee, echt nicht! Etwa wie du, als Aushilfe auf ’m Bau?« Der Blonde lachte keckernd und honorierte den Ratschlag mit einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter.
»Was ist verkehrt daran, du Spinner? Ich kann wenigstens einen saufen gehen, wenn ich will.«
»Jetzt hab dich nicht so!«, beharrte der andere.
Der Wirt näherte sich langsam den beiden Streithähnen, um einzugreifen oder die nächste Bestellung entgegenzunehmen. Vermutlich würde sich das in den nächsten Minuten entscheiden. Die Männer nahmen keine Notiz von Leon, der an ihnen vorbeischlenderte und sich hinter dem Holzgitter vor den Toiletten verbarg. Sie palaverten weiter.
»So was wie letztens wäre jetzt nicht schlecht. Gute Kohle dafür, irgendwo ein paar Fensterscheiben einzuschmeißen. Hast du mal wieder was von unserer unbekannten Auftraggeberin gehört?«
Das Geräusch eines von Stoff abgefangenen Hiebes ließ vermuten, dass Blondie sich eine eingefangen hatte. Leon bewegte sich ein Stück vor und spähte durch das Holzgitter.
»Hast du sie noch alle?! Schrei es doch gleich in die Welt hinaus!«, rügte der
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