Die Totenmaske
in luftiger Höhe über die Köpfe der Tanzenden wie ein Fallschirmspringer vor dem Absprung. Dabei wippte er ekstatisch mit seinem platinblonden Haarschopf. Seine Hand rutschte langsam vom Geländer. Instinktiv machte Zoe einen Satz zur Seite. Er sprang und landete direkt vor ihr auf seinen Füßen. Seine Beine knickten unter der Wucht des Aufpralls ein. Ein Schaudern durchzog sie bei dem Anblick. Sie hätte sich wahrscheinlich nach einem derart waghalsigen Sprung sämtliche Knochen gebrochen. Doch Blondie kam schwungvoll wieder zum Stehen wie ein Kastenteufel, verharrte einen Augenblick in auffälliger Schräghaltung, den fragenden Blick aus glasigen Augen auf sie gerichtet. Donnernde Bässe schienen ihn wieder in ihren Bann zu ziehen. Völlig entrückt zog er sich tanzend in die wogende Menge zurück. Niemand schenkte ihm weitere Aufmerksamkeit, seine spektakuläre Einlage war längst vergessen. So würde er vermutlich die nächsten Stunden verbringen. Ungeachtet seiner schiefen Haltung, die von einem verletzten Fuß verursacht wurde, der in einem unnatürlichen Neunzig-Grad-Winkel abgeknickt war. Sein Knöchel musste derweil die Aufgabe der Fußsohle übernehmen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es sei denn, ein Drogenrausch hatte jegliches Schmerzempfinden für eine Zeitlang ausgeblendet.
»Spasti«, entfuhr es Zoe angewidert.
Sie vollzog eine schwungvolle Drehung, um den offensichtlich Todessehnsüchtigen auszublenden. Das Kunsthaar kitzelte ihre nackten Schultern. Ihr Blick fiel auf den äußerst lebendigen Boris Nauen. Der Schreck durchfuhr sie kurz, aber heftig. Blitzartig erschien ihr sein Gesicht bleich und leblos. Für den Bruchteil einer Sekunde stand die Zeit still. Ihre Ohren rauschten, als befände ihr Kopf sich unter Wasser. Dann setzte das ohrenbetäubende Wummern der Bässe wieder ein. Sie hatte eindeutig eine zu rege Phantasie oder einen Drink zu viel.
Anscheinend beobachtete er sie schon eine Weile wie ein Bluthund, der ihre Fährte aufgenommen hatte. Sogar aus der Entfernung konnte sie das Glänzen in seinen Augen erkennen. Der Vorfall vor der Tür schien mehr sein Interesse an ihr geweckt als ihn verärgert zu haben. Sie verzog die Lippen zu einem gestellten Lächeln und senkte die Lider, bis er unter den Schatten ihrer aufgeklebten Wimpern verschwand. Sollte er doch kommen! Tanzend drehte sie ihm den Rücken zu, weil etwas in ihr bei seinem Anblick aufschreien wollte.
Nein, nein, wir werden doch nicht in Panik geraten! Niemand weiß, wer ich bin. Niemand wird mich erkennen.
Zoe fuhr sich mit der Hand über die Wange, fühlte die dicke Schicht Make-up unter ihren Fingerspitzen. Stundenlang hatte sie damit zugebracht, die Form ihrer Nase zu verändern und ihre Wangenknochen zu modellieren. Eine ganze Armada von Theaterschminke und braune Kontaktlinsen hatten ihr Gesicht so verändert, dass sie sich selbst kaum im Spiegel erkannte. Die Maske saß perfekt. Sie fühlte sich bereit für eine Konfrontation, von der sie sich erhoffte, einen Teil ihres Seelenfriedens zurückzuerlangen.
Als sie sich wieder umdrehte, tänzelte Boris mit einer Bierflasche in der Hand auf sie zu. Na, das ging ja schnell! Dass es ihm dabei an jeglichem Taktgefühl fehlte, wusste sie ja bereits. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich in die Magengrube. Sie ignorierte es und konzentrierte sich auf den albernen Anblick, der sich ihr bot. Was Boris da für Tanzen hielt, glich eher einem unkontrollierten Körperzucken, wobei sein einziger Halt die Bierflasche in seiner Hand zu sein schien. Zoe tat so, als würde sie ihn nicht bemerken. Sie drehte sich tanzend im Kreis. Ein Teil von ihr hoffte, dass Boris verschwinden würde, während eine innere Stimme sich mahnend erhob, sie sollte aufhören, mit dem Feuer zu spielen. Langsam verlor sie den Überblick.
Doch Boris steuerte schnurstracks auf Zoe zu, als wäre sie eine alte Bekannte. Ihr Herz rutschte in die Bauchgrube. Vor ihren Augen flimmerte es. Sie drohte die Fassung zu verlieren. Der Drang, einfach die Flucht zu ergreifen, wurde übergroß. Im selben Moment wechselte der Soundtrack und rief eine Welle der Begeisterung unter den Tanzenden hervor. Rhythmisch hüpfende Körper drängten sich immer näher an Zoe, als wäre sie plötzlich unsichtbar geworden. Eingeklemmt in einer Falle aus schwitzenden Leibern, spürte sie Ekel in sich aufsteigen. Ihr Herz raste. Sie bemühte sich, einfach weiterzutanzen und sich der wogenden Menge anzupassen. Dabei konnte sie versuchen, sich
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