Die Totensammler
flog Neil Armstrong in seinem Vortrag zum Mond, bevor er überhaupt für die NASA gearbeitet hatte. Als er fertig war, applaudierte kein einziger seiner Mitschüler, und die Lehrerin, Mrs. Byron, deren Augen durch ihre Hornbrille doppelt so groß wirkten, forderte ihn auf, sich zu setzen. Dann kam Katie an die Reihe.
Das Mädchen, das Adrian liebte, stellte sich vor die Klasse und redete über Beethoven. Adrian wusste nicht viel über Beethoven, außer dass er sich ein Ohr abgeschnitten hatte, allerdings erwähnte Katie das in ihrem Vortrag nicht, er hatte keine Ahnung, warum. Aber sie erzählte, dass der Komponist taub geworden war – und das kam bestimmt von dem abgeschnittenen Ohr. Mitten im Vortrag fingen ein paar der Kinder an zu lachen. Mrs. Byron ermahnte sie, damit aufzuhören. Sie gehörte zu jenen Lehrerinnen, die einen ständig ermahnten, und war offensichtlich im Alter von vierzig Jahren zur Welt gekommen. Katie redete langsamer und setzte ihr Referat fort, dann wurde erneut gelacht, und sie fing an zu weinen und rannte aus dem Zimmer. Adrian wollte ihr hinterherlaufen. Er dachte, das wäre eine starke Geste, und sie müsste daraufhin seine Liebe erwidern. Doch der Feigling in seinem Innern hielt ihn davon ab. Er hasste diesen Feigling. Er wollte ihn töten, doch ihm fehlte der Mut dazu. Damals. Allerdings beschloss er in jenem Moment, wenigstens so zu tun, als wäre er dazu in der Lage.
Beim Mittagessen ging er auf den Jungen zu, der als Erster angefangen hatte zu lachen.
»Ich möchte, dass du Katie in Ruhe lässt«, sagte Adrian.
»Bitte was? Du verarschst mich, oder?«
»Ich mein’s ernst.«
Der Junge hieß Redmond, aber er wurde von allen nur Red genannt. Er war eines dieser dicken, pausbäckigen Kinder, die später im Leben behaupten, sie hätten schwere Knochen. »Du meinst es ernst?«, sagte Red und tippte Adrian mit seinem dicken Zeigefinger gegen die Brust. »Little Aids«, sagte er, denn so wurde Adrian genannt, »möchte nicht, dass wir seine Freun din hänseln.«
»Sie ist nicht meine Freundin.«
Red schubste ihn erneut, nur dass sich diesmal einer seiner Freunde hinter Adrian gekniet hatte und dieser rückwärts über ihn stolperte und hinfiel. Bereits durch den Aufprall war sein Kampfeswille weitgehend gebrochen, den Rest erledigte Red, indem er sich im nächsten Moment auf ihn stürzte, ihm zweimal mit voller Wucht in den Magen schlug und sein Gesicht in den Dreck drückte. Niemand sprang Adrian zur Seite. Nach und nach kamen andere Schüler herüber, um dabei zuzusehen. Darunter auch Katie. Ein paar der älteren Mädchen brachten sie herüber. Und Adrian schaute zu ihr auf. Vergeblich versuchte er, sie anzulächeln. Die Schmerzen waren zu stark, außerdem benötigte er all seine Kraft, um sich nicht in die Hose zu machen.
»Er ist doch nicht dein Freund, oder?«, fragte eines der anderen Kinder, ein groß gewachsenes Mädchen, das plötzlich in die Höhe geschossen war, mit großem Kiefer, fiesen Augen und lockigem Haar. Es schien ganz normal zu sein, dass man sich in ein echtes Miststück verwandelte, wenn man schneller als die anderen wuchs.
Katie sagte kein Wort.
»Denn wenn er dein Freund ist, liegst du gleich neben ihm«, fügte das Mädchen hinzu. »So sieht deine Zukunft aus.« Bedeutungsvolle Worte für eine Dreizehnjährige.
Alle wurden ganz still, während Katie über ihre Zukunft nachdachte. »Er ist … er ist nicht mein Freund«, sagte sie.
»Sondern?«
»Keine Ahnung. Irgend so ein … ein Loser aus meiner Klasse«, sagte Katie mit Tränen in den Augen.
»Ein was?«, fragte das Mädchen.
»Ein Loser. Ein Loser«, sagte Katie.
Adrian kann sich noch genau daran erinnern, Wort für Wort. Diese Erinnerungen sind kein Problem für ihn, die an die darauffolgenden Jahre allerdings schon. An diesem Tag entliebte er sich so schnell, wie er sich verliebt hatte, zumindest glaubte er das damals. Von da an wurde es in der Schule immer schlimmer. Die Mädchen hänselten ihn jetzt genauso wie die Jungs. Katie hingegen wurde sehr beliebt. Allerdings muss man ihr zugutehalten, dass sie ihn nie hänselte. Manchmal kam er mit blutiger Nase und abgeschürften Ellbogen und Knien nach Hause, dann rief seine Mutter in der Schule an, um sich zu beschweren, doch am nächsten Tag wurde er nur noch übler schikaniert. So lief das eben, je öfter man sich beschwerte, desto größer wurde das Problem, und die Lehrer waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Seine
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