Die Totgesagten
Acht.«
In seinem Kopf rasten die Gedanken. Er begriff blitzartig, was das bedeutete: Irgendwo gab es noch ein Mordopfer.
E rsollte es nicht tun, das wusste er. Aber er konnte es nicht lassen. Seine Schwester mochte es nicht, wenn er bettelte. Wenn er um das Unerreichbare bat. Aber irgendetwas in seinem Inneren trieb ihn immer wieder dazu. Er musste wissen, was dort draußen war. Was hinter dem Wald, hinter den Feldern lag. Wohin sie jeden Tag fuhr, wenn sie sie allein im Haus zurückließ. Er musste einfach wissen, wie diese andere Wirklichkeit aussah, die ihnen jedes Mal wieder bewusst wurde, wenn hoch oben am Himmel ein Flugzeug über sie hinwegflog oder wenn sie in weiter Ferne ein Auto hörten.
Am Anfang hatte sie sich geweigert und gesagt, es käme nicht in Frage. Das Haus sei der einzige Ort, wo sie sicher seien, vor allem er, ihr kleiner Unglücksrabe. Nur hier könne ihm nichts passieren. Aber er ließ nicht locker. Und jedes Mal, wenn er fragte, kam ihm ihr Widerstand schwächer vor. Er hörte selbst, wie flehentlich seine Stimme klang, wenn er von der fremden Welt sprach, die er wenigstens ein einziges Mal sehen wollte.
Seine Schwester stand immer schweigend daneben. Mit einem Kuscheltier im Arm und dem Daumen im Mund. Nie gab sie zu, dass sie die gleiche Sehnsucht empfand wie er. Sie hätte sich nie getraut zu fragen. Doch manchmal sah er denselben Wunsch in ihren Augen aufblitzen, wenn sieauf der Bank am Fenster saß und zum Wald hinausschaute, der sich ins Unendliche auszudehnen schien. Dann begriff er, dass ihre Sehnsucht genauso groß war wie seine.
Darum fragte er weiter. Er bettelte und bat. Sie erinnerte ihn an das Märchen, das sie ihnen so oft vorlas. An die neugierigen Geschwister, die sich im Wald verliefen. Die so einsam und verängstigt waren und von einer bösen Hexe gefangen gehalten wurden. Dort draußen könnten sie sich verirren. Sie beschützte sie nur. Wollten sie sich etwa verlaufen? Wollten sie riskieren, nie wieder nach Hause zu finden? Sie hatte sie doch schon einmal vor der Hexe gerettet … Ihre Stimme klang immer so traurig, wenn sie ihm mit Gegenfragen antwortete. Aber irgendetwas trieb ihn dazu, weiter zu bohren, obwohl ihm die Angst fast das Herz zerriss, wenn ihre Stimme zitterte und ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Das da draußen war so verlockend.
W illkommen!«Erling stand an der Haustür und winkte die Gäste in den Flur. Als er die Kameramänner entdeckte, streckte er sich noch ein bisschen mehr.
»Viveca und ich freuen uns wahnsinnig, dass ihr zu unserem kleinen Abschiedsessen vorbeikommen konntet. Hier in unserer bescheidenen Hütte.« Er lachte selbstzufrieden in die Kamera. Den Zuschauern würde dieser Einblick ins Leben der »oberen Zehntausend« bestimmt gefallen. So hatte er sich gegenüber Fredrik Rehn ausgedrückt. Fredrik fand die Idee natürlich genial. Die Teilnehmer zu Gast beim höchsten Tier der Gemeinde. Eine super Kombination.
»Kommt rein.« Erling scheuchte sie ins Wohnzimmer. »Viveca bringt uns gleich ein Begrüßungsschlückchen. Oder sitzt ihr lieber auf dem Trockenen?« Er zwinkerte verschmitzt und lachte sich über seinen eigenen Scherz kaputt. Spätestens jetzt würden die Zuschauer begreifen, dass er nicht irgendein durchschnittlicher, langweiliger Kommunalpolitiker in zu engem Anzug war. Nein, Erling wusste, wie man die Stimmung anheizte. Auf Konferenzen ließ er in der Sauna immer die unanständigsten Witze vom Stapel, und in der ganzen Wirtschaftsbranche war er als Witzbold bekannt. Zwar konnte er im Geschäftsleben über Leichen gehen, aber er hatte Humor.
»Dakommt meine kleine Viveca mit den Getränken.« Er zeigte auf seine Ehefrau, die noch immer kein Wort gesagt hatte. So hatten sie es besprochen, bevor die Gäste und das Kamerateam eintrafen. Sie sollte ihm nicht die Show stehlen. Schließlich hatte er diesen ganzen Zirkus ermöglicht.
»Heute Abend lasse ich euch ausnahmsweise ein Stöffchen für Erwachsene probieren«, schmunzelte er. »Einen echten Dry Martini. In Stockholm sagen wir übrigens ›Dreier‹ dazu.« Er lachte etwas zu laut. Vorsichtig schnupperten die Jugendlichen an ihren Drinks.
»Muss man die Olive essen?« Uffe rümpfte angewidert die Nase.
Erling lächelte. »Nicht nötig. Reine Deko.«
Uffe nickte wortlos und kippte das Glas in einem Zug hinunter, wobei er sorgsam darauf achtete, nicht die Olive zu verschlucken.
Einige andere folgten seinem Beispiel. Erling hob leicht irritiert sein Glas.
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