Die Totgesagten
jemand hierbei helfen kann.« Patrik legte die Aktenmappe auf den Tisch vor dem Ausleihtresen und zog behutsam die Klarsichthüllen mit den Buchseiten heraus. Jessica kam neugierig näher und warf einen Blick darauf. Sie war groß und schlank und hatte mittelblonde, schulterlange Haare, die sie zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Auf ihrer Nasenspitze saß eine Lesebrille. Patrik fragte sich, ob in Bibliotheken nur Brillenträger arbeiten durften.
»Klar. Worum geht’s?«
»Ich habe hier einige Seiten aus einem Märchenbuch und wollte wissen, ob sich irgendwie feststellen lässt, woher oder vielmehr von wem sie stammen.«
Jessica schob ihre Brille hoch, nahm die Plastikhüllen in die Hand und studierte sie gewissenhaft. Sie legte sie nebeneinander auf den Tisch und sortierte sie neu.
»Jetzt liegen sie richtig«, sagte sie zufrieden.
Patrik beugte sich nach vorn und sah genau hin. Ja, so stimmte die Abfolge, nun entwickelte sich das Märchen, wie es sollte. Die Seite, die in Elsa Forsells Bibel gesteckt hatte, bildete den Anfang. Plötzlich kam ihm ein Gedan ke.Die Seiten lagen nun in derselben Reihenfolge nebeneinander, in der die Opfer umgebracht worden waren. Die erste Seite war bei Elsa Forsell gefunden worden, die zweite bei Börje Knudsen, die dritte bei Rasmus Olsson und die letzte hatte neben Marit Kaspersen im Auto gelegen. Er sah Jessica dankbar an. »Du hast mir bereits geholfen.« Dann betrachtete er die Seiten erneut. »Lässt sich etwas über das Buch sagen? Woher es kommt?«
Die Bibliothekarin überlegte einen Moment, dann ging sie zum Computer am Ausleihtresen. »Das Buch sieht ziemlich alt aus. Es hat bestimmt schon einige Jahre auf dem Buckel. Das merkt man an den Illustrationen und an der Sprache.«
»Aus welcher Zeit könnte es ungefähr stammen?« Patrik konnte seine Ungeduld kaum verbergen.
Jessica sah ihn über den Rand ihrer Brille an. Einen Augenblick lang hatte sie unheimliche Ähnlichkeit mit Annika. »Das versuche ich gerade herauszufinden. Wenn du mich also in Ruhe arbeiten lassen würdest …«
Patrik kam sich vor wie ein getadelter Schuljunge. Er hielt den Mund und verfolgte gespannt, wie Jessicas Finger über die Tastatur huschten.
Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, verkündete sie: »Das Märchen von Hänsel und Gretel ist in Schweden in unzähligen Ausgaben und Auflagen erschienen. Ich habe jedoch alle Ausgaben nach 1950 ausgeschlossen, dann sind es nicht mehr ganz so viele. Davor habe ich hier zehn verschiedene Ausgaben gefunden. Ich würde tippen« – sie betonte das Wort »tippen« –, »dass es sich um eine Ausgabe aus den zwanziger Jahren handelt. Mal sehen, ob ich bei irgendeinem Antiquariat reinkomme und eine Abbildung von den Ausgaben aus den Zwanzigern finde.« Sie klickte noch ein bisschen weiter, und Patrik musste sich zusammenreißen, um nicht vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Sieh mal, kommt dir das Bild bekannt vor? Dieses Buchist 1924 erschienen, in einer Auflage von tausend Exemplaren.«
Er stellte sich neben sie, um die Abbildung besser zu sehen. Als er das Titelbild auf dem Einband sah, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Das Bild hatte große Ähnlichkeit mit den Illustrationen auf den Buchseiten, die sie bei den Mordopfern gefunden hatten.
»Das ist die gute Nachricht«, stellte Jessica trocken fest. »Die schlechte ist: Niemand kann sagen, ob der Besitzer das Buch gekauft oder geschenkt bekommen hat, als es gerade neu erschienen war. Er oder sie könnte es sich zu jedem Zeitpunkt in einem Antiquariat besorgt haben. Im Netz finde ich auf Anhieb zehn Exemplare, die momentan antiquarisch angeboten werden.«
Patrik ließ den Kopf hängen. Er wusste, dass es ein Schuss ins Blaue gewesen war, hatte aber doch die winzige Hoffnung gehegt, mit Hilfe des Buchs etwas herauszufinden. Er ging zurück an den Tisch und starrte zornig auf die herausgerissenen Seiten. Am liebsten hätte er sie vor Enttäuschung in Stücke gerissen, aber er beherrschte sich.
»Hast du gesehen, dass eine Seite fehlt?« Jessica stellte sich neben ihn. Patrik sah sie erstaunt an.
»Nein, daran habe ich nicht gedacht.«
»Hier, sieh dir doch mal die Seitenzahlen an. Auf dem ersten Blatt ist die Fünf und die Sechs, dann kommt ein Sprung zu Neun und Zehn und Elf und Zwölf. Auf dem vierten Blatt stehen die Seitenzahlen Dreizehn und Vierzehn. Es fehlt also das Blatt mit der Sieben und der
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