Die Totgesagten
hatte nie wieder einen Tropfen Alkohol getrunken. Dasselbe galt für Rasmus, der jaschon auf Grund der gesundheitlichen Folgen des Unfalls nicht mehr trinken durfte. Börje war eine Ausnahme. Er hatte weitergesoffen und sich weiterhin besoffen ans Steuer gesetzt. Das Mädchen, das er auf dem Gewissen hatte, schien ihn nicht zu belasten.
Aber es war unmöglich, Schlussfolgerungen zu ziehen, denn ein Mordopfer fehlte ihnen noch. Das Bild war nicht komplett. Als um neun Uhr morgens das Telefon klingelte, ahnte Patrik nicht, dass ihm nun das fehlende Puzzleteil in die Hände fallen würde.
»Patrik Hedström.« Er legte die Hand auf die Sprechmuschel, damit der Anrufer sein Gähnen nicht hörte. »Verzeihung, wie war Ihr Name?«
»Ich heiße Vilgot Runberg und bin Kommissar in der Polizeidienststelle von Ortboda.«
»Ortboda?«
»Bei Eskilstuna.« Kommissar Runberg klang ungeduldig. »Keine große Dienststelle, wir arbeiten hier zu dritt.« Patrik wendete sich vom Hörer ab, um zu husten. »Ich bin gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, ich war zwei Wochen in Thailand.«
»Ach ja?« Patrik überlegte, worauf Runberg hinauswollte.
»Deshalb habe ich Ihre Suchmeldung erst jetzt gefunden.«
»Und?« Patriks Interesse war geweckt. Auf einmal kribbelte es ihn in den Fingerspitzen.
»Meine Kollegen hier sind noch ziemlich neu, denen fiel zu Ihrer Anfrage nichts ein. Aber ich kann mich an den Fall erinnern. Ich selbst habe vor acht Jahren die Ermittlungen geleitet.«
»Welcher Fall?« Patrik wurde kurzatmig. Er presste den Hörer ans Ohr, um kein einziges Wort zu verpassen.
»Tja, wir hatten hier vor acht Jahren einen Mann, der … Ich fand die ganze Geschichte damals schon merkwürdig. Aber er hatte eine Trinkerkarriere hinter sich, und …« Er brummteverlegen. Offenbar widerstrebte es ihm, seinen Irrtum zuzugeben. »Wir dachten eigentlich alle, er hätte einen Rückfall gehabt und hätte sich totgesoffen. Aber die Verletzungen, die Sie erwähnen … Im Nachhinein muss ich gestehen, dass ich mich schon damals ein bisschen gewundert habe.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Patrik begriff, welche Überwindung es Kommissar Runberg gekos tet haben musste, ihn anzurufen.
»Wie hieß der Mann?«
»Jan-Olov Persson. Zweiundvierzig Jahre alt, Tischler. Verwitwet.«
»Und er hat getrunken?«
»Ja, als seine Frau starb, brach seine Welt zusammen. Traurige Geschichte. Eines Abends hat er sich besoffen ins Auto gesetzt und ein junges Paar überfahren. Der Mann starb, und Jan-Olov musste eine Weile sitzen. Als er wieder draußen war, hat er die Finger vom Alkohol gelassen. Ganz vorbildlich, er hat seine Arbeit gemacht und sich um seine Tochter gekümmert.«
»Und dann wurde er plötzlich tot aufgefunden, mit Alkoholvergiftung?«
»Ja«, seufzte Runberg. »Wie gesagt, wir dachten, er hätte einen Rückfall gehabt und die Sache wäre aus dem Ruder gelaufen. Seine zehnjährige Tochter hat ihn gefunden. Sie behauptete zwar, sie hätte einen fremden Mann in der Tür gesehen, aber wir haben ihr nicht geglaubt. Sie stand ja unter Schock. Vielleicht wollte sie ihren Vater auch schützen …« Er sprach nicht weiter, doch in seinem Schweigen lag eine gewisse Beschämung.
»Lag eine Seite aus einem Märchenbuch neben der Leiche?«
»Darüber habe ich natürlich auch schon nachgedacht. Aber ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich wäre es uns nicht aufgefallen, wir hätten einfach angenommen, dass sie der Tochter gehört.«
»Esgibt also kein Beweisstück dieser Art?« Patrik konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen.
»Nein, wir haben sowieso nicht viel von dem Fall aufbewahrt. Wie gesagt, wir dachten, der Kerl hätte sich totgesoffen. Aber das bisschen, was wir haben, schicke ich Ihnen.«
»Haben Sie ein Fax? Es wäre gut, wenn wir die Unterlagen so schnell wie möglich kriegen könnten.«
»Klar.« Runberg machte eine Pause. »Armes Mädchen. So ein beschissenes Leben. Zuerst stirbt die Mutter, und der Vater wandert ins Gefängnis. Dann stirbt er auch noch. Und neulich habe ich in der Zeitung gelesen, dass die Kleine bei euch ermordet wurde. Die hatte doch in so einer Serie mitgespielt. Ich hätte sie allerdings nicht wiedererkannt, Lillemor war ja gar nicht mehr sie selbst. Mit zehn war sie klein, dunkelhaarig und klapperdürr. Aber jetzt … ist wahrscheinlich eine Menge passiert in den letzten Jahren.«
Patrik hatte das Gefühl, dass die Wände einstürzten. Im ersten Moment begriff er überhaupt
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