Die Totgesagten
Mund halten sollen. Gerade als sie alles wieder ausbügeln wollte, kam Calle nach draußen und blickte fragend vom einen zum anderen.
»Wasmacht ihr denn hier? Kloppt ihr euch?« Er lachte. »Du bist schließlich Meister im Frauenverkloppen. Los, Uffe, zeig uns noch mal, was du kannst!«
Uffe zog die Nase hoch und ließ die Arme sinken. Finster starrte er Tina an. Sie machte noch einen Schritt zurück. Mit Uffe stimmte irgendetwas nicht. Wieder kamen ihr die Bilder vom Vorabend in den Sinn. Sie machte auf dem Absatz kehrt. Bevor sich die Haustür hinter ihr schloss, hörte sie Uffe mit leiser Stimme sagen: »Du kannst es doch auch ganz gut, oder?«
Calles Antwort hörte sie nicht mehr.
Ein Blick in den Spiegel bewies Erica, dass sie so kaputt aussah, wie sie sich fühlte. Langsam hängte sie Jacke und Schal auf und horchte neugierig. Zwischen den ohrenbetäubenden, fröhlichen Schreien der Kinder hörte sie Anna, dazwischen aber noch eine weitere erwachsene Stimme. Sie ging ins Wohnzimmer. Auf einem großen Haufen in der Mitte des Raums lagen drei Kinder und zwei Erwachsene. Das tobende und brüllende Knäuel, aus dem Arme und Beine ragten, sah aus wie ein schreckliches Monster.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie streng.
Anna blickte verwundert auf. Ihre sonst immer so ordentlich gekämmten Haare waren völlig verstrubbelt.
»Hallo!« Dan hob ebenfalls den Blick, wurde aber sofort wieder von Emma und Adrian niedergekämpft. Maja kreischte vor Vergnügen und zwickte Dan in die Füße.
Anna stand auf und klopfte ihre Hose ab. Durch das Fenster in ihrem Rücken strömte die sanfte Frühlingssonne und bildete einen Lichtkranz auf ihrem blonden Haar. Plötzlich sah Erica, wie schön ihre Schwester war. Und wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte. Dieser Gedanke weckte wieder den alten Schmerz in ihrer Brust. Und die ewige Frage: Warum hatte ihre Mutter sie nicht geliebt? Wieso hatten sie von Elsy nie ein freundliches Wort gehört, nie eineLiebkosung oder wenigstens einen zärtlichen Klaps bekommen? Stattdessen nur Gleichgültigkeit und Kälte. Ihr Vater war das Gegenteil von Elsy gewesen. Wo sie hart war, war er weich. Wo sie kühl war, war er warmherzig. Er hatte versucht, zu erklären, zu entschuldigen, auszugleichen. Bis zu einem gewissen Grad war ihm das auch gelungen. Aber er konnte sie nicht ersetzen. In ihrem Herzen klaffte bis heute eine Lücke, obwohl Tore und Elsy seit vier Jahren tot waren. Ein Autounfall hatte sie das Leben gekostet.
Anna sah sie fragend an. Erica merkte, dass sie ihre Schwester schon eine ganze Weile gedankenverloren anstarrte, und zwang sich schnell zu einem Lächeln.
»Wo ist Patrik?«, fragte Anna und warf einen letzten belustigten Blick auf den Haufen im Wohnzimmer, bevor sie in die Küche ging. Erica folgte ihr, ohne die Frage zu beantworten. »Ich habe gerade Kaffee gemacht«, sagte Anna und schenkte drei Tassen voll. »Außerdem haben wir mit den Kindern Zimtschnecken gebacken.« Erst jetzt bemerkte Erica den verführerischen Duft. »Du musst dich leider hiermit begnügen.« Anna stellte einen Teller mit mickrigem, trockenem Gebäck vor sie hin.
»Was ist das denn?« »Vollkornkekse.« Anna wendete ihr den Rücken zu und legte die frischen Zimtschnecken in ein Körbchen.
»Aber …« Beim Anblick der luftig-leichten Schnecken mit dem Hagelzucker lief Erica das Wasser im Mund zusammen.
»Wolltet ihr nicht länger wegbleiben? Ich hatte natürlich vor, die hier einzufrieren, bevor du nach Hause kommst. Selbst schuld. Wenn du dich motivieren musst, denk an dein Kleid!«
Skeptisch führte Erica einen der Kekse zum Mund. Genau wie sie befürchtet hatte: die reinste Spanplatte.
»Wo steckt denn Patrik nun? Warum seid ihr so früh zurückgekommen? Ich dachte, ihr wolltet euch einen schö nenTag machen.« Anna setzte sich an den Küchentisch und rief: »Kaffee und Kuchen sind fertig!«
»Patrik musste in die Arbeit.« Erica gab es auf und legte den Keks auf den Teller zurück. Der erste Bissen – der ganz sicher auch ihr letzter bleiben würde – klebte ihr immer noch am Gaumen.
»In die Arbeit?« Anna machte ein erstauntes Gesicht. »Aber er hat doch am Wochenende frei.«
»Das dachte ich auch.« In Ericas Stimme lag ein verbitterter Unterton. »Aber es ging wirklich nicht anders.« Sie machte eine lange Pause. »Leif hat heute Vormittag eine Leiche in seinem Müllwagen gefunden.«
»Im Müllwagen?« Anna fiel die Kinnlade runter. »Wie ist sie da
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