Die Totgesagten
angemessen war. Er schielte zu Hanna hinüber. Ihre Gesichtszüge waren hart und verschlossen. Sie schien nicht das geringste Mitleid zu empfinden.
»Was ist dann passiert?«, fragte sie kalt.
Jonna hob den Blick nicht von der Tischplatte. »Dann sind Sie gekommen. Sie haben mit den anderen geredet und Sie mit Barbie.« Sie sah Hanna an.
Martin wendete sich an seine Kollegin. »Hast du gesehen, dass sie blutete?«
Hanna machte ein nachdenkliches Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich muss zugeben, das ist mir entgangen. Es war dunkel, und sie hatte irgendwie die Arme um sich geschlungen. Es war schwer zu erkennen. Und dann ist sie ja weggerannt.«
»Hast du uns noch etwas verschwiegen?« Martins Ton fallklang freundlich. Jonna schenkte ihm einen dankbaren Hundeblick.
»Nein, nichts. Ich schwöre.« Sie schüttelte heftig den Kopf, die langen Haare fielen ihr übers Gesicht. Als Jonna sie zurückstrich, wurden sämtliche Schnittwunden auf dem Unterarm sichtbar. Martin hielt entsetzt den Atem an. Wie viel Schmerzen sie gehabt haben musste! Er selbst konnte sich kaum ein Pflaster abziehen, und die Vorstellung, sich in die eigene Haut zu schneiden, nein, das hätte er nie über sich gebracht.
Nach einem fragenden Blick zu Hanna, die unauffällig den Kopf schüttelte, legte er seine Papiere zusammen.
»Wir werden uns sicher noch mal mit dir unterhalten wollen, Jonna. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass es keinen guten Eindruck macht, wenn man bei einem Mordfall wichtige Informationen verschweigt. Ich verlasse mich darauf, dass du freiwillig zu uns kommst, wenn dir noch etwas einfallen sollte. Oder falls du irgendetwas hörst.«
Sie nickte langsam. »Darf ich jetzt gehen?«
»Ja«, antwortete Martin. »Ich bringe dich noch zur Tür.«
Als er das Verhörzimmer verließ, drehte er sich noch einmal zu Hanna um, die am Tisch saß und mit dem Tonbandgerät hantierte. Sie wirkte verbissen.
Es dauerte eine Weile, bis er sich in Borås orientieren konnte. Er hatte sich vorher mündlich beschreiben lassen, wie man zum Polizeigebäude kam, aber vor Ort schien plötzlich nichts mehr zu stimmen. Nachdem er mehrere Einheimische nach dem Weg gefragt hatte, kam er endlich an und konnte den Wagen abstellen. Er brauchte nur wenige Minuten am Empfang zu warten, bis Kommissar Jan Gradenius ihn abholte und mit in sein Zimmer nahm. Dankbar nahm Patrik den Kaffee an, der ihm angeboten wurde, und setzte sich auf einen Besucherstuhl. Der Kom missarsaß hinter seinem Schreibtisch und sah ihn neugierig an.
Patrik trank einen Schluck von dem bemerkenswert guten Kaffee. »Wir haben in Tanum einen äußerst merkwürdigen Fall am Hals.«
»Ich nehme an, Sie meinen nicht den Mord an dem Mädchen aus der Reality-Soap.«
Patrik schüttelte den Kopf. »Eine Woche vor dem Mord an Lillemor Persson wurde uns ein Autounfall gemeldet. Eine Frau war von der Fahrbahn abgekommen, eine steile Böschung hinuntergefahren und gegen einen Baum geprallt. Zuerst sah es nach einem ganz normalen tödlichen Unfall aus. Vor allem, da die Fahrerin stark alkoholisiert war.«
»Aber dem war nicht so?« Kommissar Gradenius lehnte sich interessiert vor. Er war schätzungsweise an die sechzig, groß und durchtrainiert. Sein volles graues Haar schien einst blond gewesen zu sein. Patrik kam nicht umhin, seinen leichten Bauchansatz neidisch mit der schlanken Taille von Gradenius zu vergleichen. Wenn er so weitermachte wie bisher, würde er in diesem Alter vermutlich eher wie Mellberg aussehen. Patrik seufzte, nahm noch einen Schluck Kaffee und beantwortete die Frage des Kommissars.
»Der erste Hinweis, dass etwas nicht stimmte, war die felsenfeste Behauptung sämtlicher Angehörigen, das Unfallopfer habe keinen Tropfen Alkohol getrunken.« Er sah, dass Gradenius die Augenbrauen hochzog, fuhr aber unbeirrt fort. Der Kommissar würde noch früh genug zu Wort kommen.
»Wir waren also schon vorgewarnt. Und als dann bei der Obduktion weitere zweifelhafte Umstände ans Licht kamen, zogen wir die Schlussfolgerung, dass die Frau umgebracht wurde.« Patrik hörte selbst, wie trocken und unpersönlich die Tragödie sich aus seinem Munde anhörte.
»Und was ergab die Obduktion?« Jan Gradenius hielt denBlick fest auf Patrik gerichtet. Er schien die Antwort bereits zu wissen.
»Die Frau hatte 6,1 Promille im Blut, ein Großteil des Alkohols befand sich jedoch in der Lunge. Es gab Spuren von Gewalteinwirkung im Mund- und Rachenbereich und Reste von
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