Die Tränen der Henkerin
»Was für Nachrichten habt Ihr für mich, Kind?«
Irma versuchte, etwas zu sagen, doch sie brachte kein Wort hervor, fiel Katherina um den Hals und weinte hemmungslos.
Katherina ließ sie einen Augenblick gewähren, dann machte sie sich frei. »Bei der Heiligen Jungfrau Maria, was ist geschehen?«
Irma zog die Nase hoch. »Melissa! Man hat sie in den Kerker geworfen! Man wirft ihr vor, einen Mordanschlag auf die Familie eines Ratsherrn verübt zu haben.« Sie schluchzte. »Ich verstehe das alles nicht! Was hatte sie mit diesem Ratsherrn zu schaffen? Und was hat das mit Gertrud zu tun? Es wird immer verrückter.« Wieder weinte sie, diesmal leiser, und auch Berbelin, die immer noch hilflos bei der Tür stand, liefen die Tränen über die Wangen.
»Alles, was geschieht, ist Gottes Wille, mein Kind«, sagte Katherina. »Auch wenn wir nicht immer begreifen, welchen Sinn es hat.«
»Dann ist Gott ungerecht!«, stieß Irma hervor. »Oder ist es gerecht, wenn unschuldige Menschen in den Kerker geworfen werden? Oder gar ermordet? Heute Morgen fand man einen Mann eine Viertelmeile vor der Stadt, er lag in seinem Blut, erstochen und ausgeraubt. Es heißt, er sei aus Heilbronn gewesen und auf dem Weg zum Bodensee. Ist es etwa gerecht, dass er auf diese Art sterben musste?«
Katherina erschrak. »Schweig still, Kind! Du darfst Gott nicht lästern, das ist eine Sünde.«
Irma legte die Stirn in Falten. »Eine Sünde ist es, Melissa ihrem Schicksal zu überlassen, sie dem Esslinger Scharfrichter auszuliefern. Ich begreife nicht, worum es geht, doch ich verstehe sehr wohl, dass ihr irgendwer die Schlinge um den Hals gelegt hat und sie nun langsam zuzieht.«
»Du lieber Himmel, wovon sprecht Ihr, Kind?«
»Seht Ihr denn nicht, dass es eine Verschwörung gegen Melissa geben muss? Erst wird sie gezwungen, Hals über Kopf aus der Stadt zu fliehen, dann verschwindet ihr Kind und man lockt sie nach Esslingen, wo sie unter einem Vorwand festgenommen wird. Denn nichts von dem, was man ihr vorwirft, kann sie getan haben. Was sollte also anderes dahinterstecken als ein ausgeklügelter Plan, um sie zu vernichten?«
Katherina nickte. Diese junge Frau war klüger, als es den Anschein hatte. Und sie glaubte an Melisande, so wie sie selbst auch. »Danach sieht es in der Tat aus, mein Kind. Leider wissen wir nicht, wer ihr Gegner ist.«
»Was können wir tun?«, fragte Irma. »Sollen wir nach Esslingen reisen und mit dem Rat sprechen? Dort muss es doch auch vernünftige Männer geben.«
»Du liebe Güte, nein, Irma!«, rief Katherina erschrocken. »Wir bleiben schön hier. Wendel ist auf dem Weg nach Esslingen, sicherlich ist er längst dort, hat schon mit dem Rat gesprochen und alles in die Wege geleitet, um Melissa zu retten.«
»Und wenn nicht? Wenn ihm unterwegs etwas zugestoßen ist? Wer hilft Melissa dann?«
Katherina starrte sie entsetzt an.
»Verzeiht«, stammelte Irma. »Wie unüberlegt von mir. Natürlich ist Eurem Sohn nichts zugestoßen.« Sie senkte den Kopf. »Ich will doch nur etwas tun, irgendwie von Nutzen sein.«
Katherina seufzte. »Ihr, mein Kind, seid hier in Rottweil von größtem Nutzen für Melissa, glaubt mir. Geht wieder nach Hause, betet für Eure Freundin, und haltet Augen und Ohren offen. Ihr scheint immer bestens über alles unterrichtet zu sein. Auch das ist wertvoll. Ich werde derweil einen Brief an den Rat der Stadt Esslingen schreiben und die Herren daran erinnern, dass sie schon einmal beinahe einen Unschuldigen auf den Richtplatz gezerrt haben.«
»Haben sie das?«, fragte Irma mit großen Augen.
»Das haben sie, und es ist ihnen bestimmt noch in schlechter Erinnerung. Falls Wendel, nun … aufgehalten wurde, sollte mein Brief vorerst das Schlimmste verhindern.«
Irma seufzte, umarmte Katherina und trat an die Tür. »Gebe Gott, dass Ihr Recht habt«, flüsterte sie, bevor sie auf die Straße trat.
Katherina wandte sich an Berbelin. »Hast du nichts zu tun, Kind? Hör auf zu flennen, und mach dich ans Werk. Es hilft deiner Herrin nicht, wenn vor lauter Kummer die Arbeit liegen bleibt.«
»Ja, Frau Katherina.« Berbelin eilte los, hinauf in den ersten Stock, wo die Betten aufgeschüttelt werden mussten, doch kaum war sie auf der Stiege angelangt, hörte Katherina sie bereits wieder schluchzen.
Katherina trat zurück an den großen Esstisch, um sofort das Schreiben an den Esslinger Rat aufzusetzen. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Briefe hier zu schreiben, nicht in der Schreibstube, denn die
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