Die Tränen der Henkerin
die Wange. Melisande versuchte ihn anzuspucken, aber ihr Mund war zu trocken, sie musste husten.
Sempach war nach hinten ausgewichen. Als er jedoch erkannte, dass Melisande nicht einmal spucken konnte, brach er in dröhnendes Gelächter aus. »Du bist eine echte Wildkatze! Eine ungezähmte Stute. Wie hält dein Mann das aus? Hast du überhaupt einen? Ach ja, Wendel Füger. Ich erinnere mich dunkel. Ein Waschlappen. Ein Feigling. Du hättest sehen sollen, wie der sich angestellt hat, als wir ihn hier im Kerker peinlich befragt haben. Hat sich bepisst wie ein Greis und gejammert wie ein kleines Kind.«
Sempach brüllte vor Lachen. Melisande biss sich fast die Zunge ab, um ihm nicht entgegenzuschleudern, dass er ein Lügner war, dass sie dabei gewesen war und die Wahrheit kannte.
Von einem Moment auf den anderen wurde Sempach todernst. »Du erwartest keine Gnade, nicht wahr? Und wenn ich mit dir ein Geschäft machen würde und dich freiließe, dann würdest du denselben Fehler nicht zweimal machen, habe ich Recht? Dann würdest du mich bei der erstbesten Gelegenheit abstechen.«
»Darauf kannst du wetten!« Endlich hatte Melisande die Sprache wiedergefunden. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, also konnte sie Sempach ebenso gut die Wahrheit ins Gesicht schleudern. »Wo ist meine Tochter, du Ungeheuer? Was hast du mit ihr angestellt? Warum spielst du den Ahnungslosen? Wenn du weißt, wer ich bin, weiß du auch, was ich in deinem Haus wollte!« Ihre Stimme war brüchig, doch sie brachte die Worte ohne ein Zittern über die Lippen.
Sempach hob die Augenbrauen. »Wovon redest du, Weib? Deine Tochter? Ich dachte, du selbst hast sie entführt? So zumindest hieß es in der Nachricht, die wir aus Rottweil erhielten. Genug geredet!« Er zog eine Art Schlüssel hervor und machte sich an der Maschine zu schaffen, metallisches Klicken hallte von den Kerkermauern wider.
Kurz darauf spürte Melisande eine Nadel, die ihr in den Oberarm piekste. Nicht fest. Es tat nicht einmal weh. Noch nicht. Sie bewegte einen Finger, und schon schoss ein Metalldorn auf ihr rechtes Auge zu. Sie erstarrte, und der Dorn blieb stehen, eine Handbreit von ihrem Auge entfernt. Jetzt erst verstand sie wirklich, in was für ein Teufelsgerät Sempach sie gesteckt hatte. Wann immer sie sich bewegte, würde die Maschine darauf reagieren. Sie selbst hatte damit einen Einfluss darauf, was ihr geschah; sie könnte ihrem Leben sogar ein rasches Ende setzen, wenn sie nicht mehr die Kraft hatte zu kämpfen. Das allerdings wäre eine Todsünde – zumal sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr ungeborenes Kind töten würde.
Sempach schob sein Gesicht ganz nah an das ihre. »Was wolltest du in meinem Haus, Hexe? Was wolltest du von mir?«, knurrte er, und es schien, als sei er plötzlich unsicher geworden.
Melisande starrte ihn an. Mit einem Mal spürte sie den Boden unter ihren Füßen wegsacken. Sie hatte den Falschen verdächtigt! Sempach wusste nichts von ihrer Tochter. Und er wusste auch nicht, dass sie Melchior gewesen war. Nichts wusste er. Er war ein Verbrecher, eine zutiefst verabscheuungswürdige Kreatur, doch mit Gertruds Entführung hatte er nichts zu tun.
Melisande schwitzte aus jeder Pore, Feuerringe tanzten vor ihren Augen. Sie hatte ihre Tochter am falschen Ort gesucht und sich völlig vergeblich in Lebensgefahr gebracht! Doch sie wollte nicht hinnehmen, dass alles verloren war. Sie biss sich auf die Zunge, der Schmerz vertrieb die Irrlichter. Eine Idee nahm in ihren Gedanken Gestalt an. Entschlossen suchte sie Sempachs Blick. »Ich wollte Euch ein Geschäft anbieten«, sagte sie. »Aber Ihr wolltet ja nicht zuhören.« Sempachs Augenlider flatterten einen Moment. Sie war also auf dem richtigen Weg. »Ich weiß von Euren verbotenen Leidenschaften und von Euren Geschäften. Ich weiß von den Mädchen, von der geheimen Kammer. Ich weiß alles.« Sie hielt inne. Entweder brachte er sie jetzt um, oder sie hatte ihn am Haken.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Sempach leise. Doch sein linkes Augenlid zuckte verräterisch. Bestimmt hatte Petter ihm von dem falschen Kunden berichtet, und jetzt zählte er eins und eins zusammen.
»Gut. Dann macht es Euch ja sicherlich auch nichts aus, dass ich aus dem hohlen Fuß der Truhe ein Pergament entfernt und zu einem guten Freund geschickt habe, um sicherzustellen, dass mir nichts zustößt. Dieser Freund ist natürlich über alles unterrichtet, und wenn er erfährt, dass ich im
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