Die Tränen der Henkerin
Folterkeller von Esslingen zu Tode gekommen bin, wird er entsprechende Maßnahmen ergreifen.«
Sempach öffnete den Mund, doch er bekam keine Gelegenheit mehr zu antworten. Laute Rufe drangen durch die Tür, dann die Stimme des Büttels. »Herr, habt Gnade …«
Ein Schmerzensschrei löste den Satz ab. Die Tür wurde aufgerissen, der Büttel taumelte hinein, hielt sich den Kopf, Blut floss über sein Gesicht. Hinter ihm drängten Wachen des Rates in den Kerker, und zuletzt traten Karl Schedel und Henner Langkoop in den Raum.
Langkoop baute sich vor Sempach auf. »Konrad Sempach, auf Beschluss des Rates ist es Euch bis zum Ende der Untersuchungen verboten, das Schelkopfstor zu betreten. Gebt mir Eure Schlüssel. Sofort!«
Sempach war blass geworden, er versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Wortlos händigte er Langkoop die Schlüssel aus, warf Melisande einen drohenden Blick zu und verließ in Begleitung zweier Wachen den Kerker.
Langkoop wandte sich an den Büttel. »Hol das Weib aus dieser Höllenmaschine, und schaff es wieder ins Verlies! Gib ihr ein frisches Gewand, etwas zu essen und zu trinken. Morgen wird das Verhör fortgesetzt.«
Der Büttel befreite Melisande, die sich kaum auf den Beinen halten konnte. Alles war so schnell geschehen, dass es ihr unwirklich erschien.
Karl Schedel baute sich vor ihr auf. »Glaub nicht, dass dir diese Sache irgendetwas nützt, Melissa Füger. Du wirst die Wahrheit sagen, so oder so, und deine gerechte Strafe erhalten für alle Verbrechen, die du begangen hast. Hier in Esslingen herrschen Recht und Gesetz.«
Auf sein Zeichen nahmen die Wachen sie in die Mitte und geleiteten sie zurück in das Verlies. Der Büttel brachte ihr ein frisches Gewand, einen ganzen Krug Wein mit Wasser gemischt, einen Viertellaib Brot und einen Apfel. Unglaublich! Ein Apfel. Sie kleidete sich um, machte sich über das Brot her und trank gierig.
Langsam klärten sich ihre Gedanken. Und die Angst kehrte zurück. Wo war Gertrud? Wer in aller Welt mochte sie entführt haben, wenn es nicht Sempach gewesen war? Sie war sich absolut sicher gewesen. Warum eigentlich? Weil er in der Nähe des Treffpunkts wohnte? Weil er ihr als Einziger in den Sinn gekommen war? Weil sie ihn für einen bezwingbaren Gegner gehalten hatte? Auch wenn sie ihr vielleicht das Leben gerettet hatten: Schedel und Langkoop waren zu früh gekommen. Noch ein paar Minuten, und sie hätte Sempach so weit gehabt. Sie hätte ihn erpresst, ihr die Flucht zu ermöglichen. Es konnte nicht mehr lange dauern bis zum nächsten Vollmond. Wenn sie dann nicht bei der Einsiedelei auf der Berkheimer Steige erschien, würde der Entführer Gertrud töten.
»Wendel, Liebster!«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Wo auch immer du bist, ich brauche dich. Bitte lass mich nicht im Stich. Ich schaffe es nicht allein.«
Etwas kitzelte sie an der Hand. Eine Feldmaus mit spitzer Nase. Ein Auge fehlte, das andere war trüb. Melisande lächelte traurig. Die Maus und sie hatten etwas gemeinsam: Auch sie war blind gewesen, war in die Falle gelaufen, weil sie sich von ihren Ängsten und Gefühlen hatte leiten lassen, weil sie vorschnell gehandelt und schlecht geplant hatte. Sie brach einen Krumen Brot ab und reichte ihn der Maus, die sich auf die Hinterpfoten stellte und sofort zu knabbern begann. Schließlich putzte sich das Tier und schlüpfte in ihren Ärmel.
Wenigstens bin ich nicht ganz allein, dachte Melisande, lehnte sich an die kalte Mauer, spürte den kleinen warmen Körper der Maus auf ihrer Haut und fiel erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
***
»Öffnet, schnell!« Heftig schlugen Fäuste gegen das Holz. »Bitte öffnet, es gibt Nachricht aus Esslingen!«
Berbelin steckte den Kopf aus der Tür. »Frau Irma, Ihr seid es! Ihr macht ja Krach wie ein ganzer Gewalthaufen. Tretet ein.« Sie zog die Tür weit auf, sodass Irma eintreten konnte.
»Wo ist deine Herrin, Berbelin?«, fragte sie, noch ganz außer Atem. »Ich muss sie sprechen.«
Berbelin senkte den Kopf. »Sie ist fort. Das wisst Ihr doch, Frau Irma.«
Irma sah die Magd an. »Ach Berbelin. Ich meine die Katherina, die Mutter von deinem Herrn. Sag, wo finde ich sie?«
»Hier.« Katherina hatte bisher schweigend am Tisch gesessen und ein Schreiben mit Anweisungen für den Verwalter verfasst, der sich in ihrer und Erhards Abwesenheit um das Gasthaus und den Weinhandel in Reutlingen kümmerte. Nun erhob sie sich und nahm Irmas Hände in die ihren. Sie waren ganz kalt.
Weitere Kostenlose Bücher