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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Gelegenheit nicht bekommen, würde sie es auf dem Richtplatz versuchen, dann würde sie sich losreißen, bevor der Henker ihr die Hände auf den Rücken band. Sie würde das Richtschwert an sich bringen, in die Menge springen und dort eine Geisel nehmen. Das barg allerdings die Gefahr, dass die Ratsherren auf einen einfachen Mann oder eine einfache Frau keine Rücksicht nehmen und unter Umständen einfach beide von Bogenschützen niederstrecken lassen würden.
    Sie überlegte kurz und schlug sich mit der Hand an die Stirn. Die Lösung war so einfach: der Priester! Sie würde den Priester als Geisel nehmen, dann würde niemand es wagen, sie anzugreifen.
    Damit ihr Plan gelingen konnte, musste sie jedoch bei Kräften bleiben. Melisande erhob sich und fing an, ihre Glieder zu recken und zu strecken, bevor sie den Oberkörper vorbeugte, bis sie mit der flachen Hand den Boden berühren konnte. Um ihre Kraft zu stärken, legte sie sich auf den Bauch, spannte die Rückenmuskeln an und drückte sich mit den Fäusten hoch. Das machte sie so lange, bis die Muskeln zu schmerzen begannen. Danach ging sie in die Hocke und federte hoch bis in den Stand. Schweiß stand ihr auf der Stirn, aber sie fühlte sich viel besser, die Anstrengung vertrieb die trüben Gedanken.
    Sie setzte sich, nahm kleine Schlucke Wein und spürte etwas, das ihr in die Haut pikte. Erschrocken griff sie unter sich und zog einen Metalldorn hervor, offenbar die Nadel einer Spange, die ein Ratsherr hier verloren haben musste. Sie war so lang wie ihr Mittelfinger, hatte am Ende eine Verdickung und lief spitz zu. In den richtigen Händen eine gefährliche Waffe. Mit diesem Dorn konnte sie mit einem Stoß einen Menschen töten. Sie musste den Kehlkopf seitlich treffen und dann den Dorn mit aller Kraft zur anderen Seite des Halses ziehen. Kein Mensch konnte das überleben.
    Melisande schauderte bei dem Gedanken. Sie würde nur töten, wenn ihr keine andere Wahl blieb. Um einen Menschen außer Gefecht zu setzen, reichte es vollkommen, ihm den Dorn in die Kniekehle zu stoßen. Der Schmerz würde so gewaltig sein, dass das Opfer augenblicklich handlungsunfähig war.
    Schritte hallten durch den Kerker, und Melisande konnte nicht verhindern, dass ihr Herz anfing zu rasen. Schnell schob sie den Dorn unter das Stroh.
    Schon schwang die Tür auf, ein Büttel erschien und stellte ihr eine Schale dampfende Suppe hin, die stark nach Nelken und Wein duftete. Fleischstücke schwammen darin und Gelbrüben.
    »Du musst eine echte Hexe sein«, knurrte er. »Du bekommst besseres Essen als ich.« Er nahm das schmutzige Geschirr mit, schlug die Tür zu und verzog sich fluchend.
    Melisande starrte auf die dampfende Schale. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Doch bevor sie anfangen konnte zu essen, kitzelten sie feine Haare an der Hand. Es war Jakob, so hatte sie die blinde Maus getauft, obwohl sie nicht wusste, ob es auch wirklich ein Mäuserich war. Melisande lächelte. »Du weißt immer sofort, wenn es etwas für dich gibt«, sagte sie. »Auch wenn du nichts siehst.«
    Sie tropfte ein wenig Suppe in ihre Hand. Jakob ließ sich nicht lange bitten, steckte seine Nase hinein und schmatzte leise, als er die Suppe aufschlabberte. Noch zwei Mal legte Melisande nach, dann war Jakob satt und begann, sich geschmeidig zu putzen. Schließlich stellte er sich auf die Hinterpfoten, piepste einmal und purzelte nach hinten.
    Melisande lachte leise. Doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken, denn Jakob zuckte einige Male und lag dann völlig still da. Tränen stiegen Melisande in die Augen. Sie stupste die Maus mit dem Finger an, aber sie rührte sich nicht.
    Melisande schlug die Hände vors Gesicht. Egal, welches Wesen es mit ihr zu tun bekam, es musste bitter dafür büßen. Nichts als Tod und Verderben verbreitete sie. War das der Fluch des Henkers? Sie stutzte. Ihre Handfläche fühlte sich plötzlich ganz seltsam an. Sie nahm den Dorn und stach sich in die Haut. Sie spürte nichts, keinen Schmerz. Sie hielt sich die Hand dicht vor die Augen. Kleine Bläschen hatten sich auf der Oberfläche gebildet.
    Eisenhut! Der Suppe musste Eisenhut beigemengt worden sein, und zwar in so hoher Konzentration, dass die Maus binnen weniger Augenblicke daran gestorben war und ihre eigene Haut taub wurde und Blasen warf. Voller Abscheu stieß sie die Schale um. Die Suppe versickerte schnell in dem rissigen Lehmboden.
    Sempach! Nur er konnte dahintersteckten. Seine Macht reichte weit; wenn er nicht selbst

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