Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
Jonathan aber hatte nicht gehört, dass sein Vater das Volk mit einem Schwur belegt hatte. Und er streckte die Spitze seines Stabes aus, den er in seiner Hand hatte, und tauchte sie in die Honigwabe und führte seine Hand wieder zu seinem Mund, und seine Augen wurden wieder hell …« Doortje hielt verstört inne. Seine Augen wurden wieder hell? Gott heilte einen Blinden, indem er ihn einen Schwur brechen ließ? Ihre Hände verkrampften sich um die Bibel. »Einer von dem Volk aber fing an und sagte: Dein Vater hat das Volk feierlich beschworen und gesagt: Verflucht sei jeder, der heute etwasessen wird. Und so ist das Volk matt geworden. Da antwortete Jonathan: Mein Vater bringt das Land ins Unglück.« Doortjes Stimme erstarb. Das konnte nicht sein, diese Stelle … Sie ließ die Bibel sinken, hob sie dann hastig wieder auf und schlug sie an einer anderen Stelle auf. »Liebe den Herrn mit deinem ganzen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand. Auf all deinen Wegen erkenne ihn nur, dann ebnet er selbst deine Pfade. Sei nicht weise in deinen Augen, fürchte den Herrn und weiche vom Bösen! Das ist Heilung für deinen Leib, Labsal für deine Gebeine. Ehre den Herrn! Amen.«
Der Vers war noch nicht zu Ende, aber Doortje meinte, dass es nun genug sei. Ihre Zuhörer wirkten auch glücklich und getröstet. Trotz der seltsamen Lesung vorher. Die zweite Stelle war richtig gewesen. Sie durfte nicht meinen, sie sei klüger als Gott, sie musste auf ihn vertrauen.
Doortje VanStout atmete tief durch. »Wollen wir noch ein paar Gebete sprechen? Mutter?«
Bentje VanStout begann, ein Gebet zu intonieren. Aber dann wurde sie von einem Ruf aus dem Krankenzimmer unterbrochen. Antina, die bei Cornelis geblieben war, rief nach Jacoba.
»Tante Jacoba! Dein Sohn wacht auf!«
Jacoba bekreuzigte sich. »Danke dem Herrn!«, flüsterte sie.
Bentje und die anderen wiederholten den Ruf. »Danke dem Herrn!«
Nur Doortje blieb stumm.
Doortje verbrachte fast die gesamte folgende Nacht mit der verzweifelten Suche nach dem ersten Bibelzitat. Aber sie fand es nicht, sosehr sie im Schein der Ölfunzel auch blätterte. Nun mochte es daran liegen, dass sie abgelenkt war. Immer wieder hörte sie Stöhnen und gelegentlich auch Schreie aus dem Krankenzimmer, oder sie wechselte ein paar Worte mit Jacobaoder Antina, wenn sie zur Küche gingen, um Tee zu kochen oder einen Umschlag zu bereiten.
»Das lindert den Schmerz«, behauptete Jacoba, die mit fortschreitender Nacht immer verhärmter und verzweifelter wirkte.
Doortje dachte daran, was der Arzt aus Neuseeland gesagt hatte. Gewöhnlich würden die Kräuter den Schmerz lindern, aber nicht in diesem Fall, nicht, wenn eine Gliedmaße bereits abstarb … Sie versuchte, nicht auf die anderen Frauen zu achten, aber sie nahm ihren jüngsten Bruder in den Arm, als er in die Stube kam, weil er nicht schlafen konnte.
»Der Cornelis stöhnt so. Ihm tut das Bein weh. Kann Gott nicht machen, dass das aufhört?«
Doortje biss sich auf die Lippen. Und dann, irgendwann nach Mitternacht, hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich kann ein bisschen bei ihm wachen, Tante Jacoba«, bot sie sich an, als sie das Krankenzimmer betrat. »Du solltest dich hinlegen, du siehst erschöpft aus.«
»Aber ich … ich kann ihn doch nicht verlassen …«
Jacoba wirkte, als würde sie gleich zusammenbrechen. Der Tag auf dem Schlachtfeld war lang gewesen, sie war dem Kommando gefolgt, hatte gesehen, wie man es aufgerieben hatte. Und wie ihr Mann starb. Jonas Pienaar war Anführer der Truppe gewesen.
Doortje wusste noch genau, wie er sie zusammengerufen hatte. Ihr eigener Vater und ihr Verlobter waren da schon fort gewesen. Sie hatten sich gleich aufs Pferd geschwungen, als der Krieg erklärt worden war. Aber die Pienaars hatten gewartet. Bis es brenzlig wurde für das Land. Bis sich das Glück auf die Seite der Briten schlug. Glück? Oder Gott? Oder einfach nur die Tatsache, dass hunderttausend Soldaten aus allen Teilen des Empire an Südafrikas Küste landeten? Letzteres hatte Cornelis gesagt …
Doortje trat an sein Bett. »Nicht wahr, Cornelis, dir machtes nichts aus, wenn ich etwas bei dir bleibe? Deine Mutter sollte sich ausruhen …«
Der Kranke nickte. Doortje war entsetzt von seinem Anblick, er war totenblass, das Gesicht wirkte spitz und eingefallen, aber seine Augen schienen zu glühen. Sicher hatte er Fieber.
»Geh, Tante Jacoba«, forderte Doortje seine Mutter nochmals auf. »Leg dich in meinem Zimmer
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