Die Tränen der Massai
hohen Pfahl schmiegt sich die Luft weich an die Haut. Die Sonne findet unsichtbare Wege durch die geflochtenen Wedel, um irgendwie Licht in den stillen Innenraum zu bringen, ein seltsames Licht, wie man es für gewöhnlich in Gebetshäusern findet. Dinge, die eigentlich kein sinnliches Bewusstsein haben sollten, werden fassbar. Das Nichts selbst nimmt Gestalt an.
Ein bescheidenes
Makuti-
Dach macht aus einer Hütte eine stille Zuflucht, einen Ort, an dem man der Hitze entfliehen kann. Ein größeres, wie das auf dem Empfangsgebäude von Cottar’s Camp im Masai Mara, schafft einen Ort schattiger Stille und dämpft die Geräusche drinnen, verstärkt aber wie eine Orchestermuschel alle Laute, die aus dem Garten kommen: Die unzähligen Geräusche von Geschöpfen der Sonne – Grillen, Käfer, Vögel, Grashüpfer und Bienen – werden in das stille Halbdunkel geleitet.
Malaika wartete allein am Empfangstisch. Auch hier herrschte Schweigen, und es gab etwas Vertrautes, aber sie tat es ab wie schon zuvor auf der Serengeti. Die Fahrt zum Camp hatte durch Massailand geführt, wo vergessene Erinnerungen sich geregt hatten wie Geister auf einem Friedhof.
Sie wartete, den Blick nach oben zum Dach gerichtet, aber niemand kam zum Empfangstisch. Vogelrufe aus dem Garten lockten sie schließlich nach draußen, und sie schlenderte in einen Essbereich mit schlichten Holztischen und Bänken. Die Geräusche des Gartens wurden leiser. Kein Windhauch regte sich in den Bäumen und Büschen der Umgebung. Malaika hatte plötzlich das Gefühl, als hätte etwas ihre Zöpfe gestreift. Sie bekam eine Gänsehaut. Obwohl über dem
Makuti-
Dach die Sonne an einem wolkenlosen Himmel stand, umschlang sie den Oberkörper mit den Armen und spürte, wie Kälte über sie hinwegzog.
Ein leises Geräusch aus einer Ecke des Gartens erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Boden dort bestand aus Flusssand, den eine alte Frau mit einem Besen aus einer Hand voll Hibiskuszweigen fegte. Rote Hibiskusblüten blieben hinter ihr zurück. Sie stützte eine Hand auf ihre knochigen Knie, um sich aufzurichten. Malaika erkannte verlegen, dass sie die alte Frau angestarrt hatte und die Alte das bemerkt haben musste, denn sie erwiderte Malaikas Blick und staunte vielleicht über die schlechten Manieren dieser jungen Frau. Malaika wandte den Blick ab, aber als die Alte schließlich weiterfegte, betrachtete sie das faltige Gesicht im Profil. Alt. Sehr alt, und … eine quälende Erkenntnis nagte irgendwo in ihrem Hinterkopf. Was hatte sie in dem atemlosen Moment, in dem sie zurückgeschaut hatte, in diesen alten Augen gesehen? Wie bei den Fragmenten eines Traums, die sofort nach dem Erwachen gesammelt werden müssen, versuchte Malaika, sich die Einzelheiten wieder vor Augen zu führen, bevor sie verschwanden. Sie wusste, sie durfte sie nicht dazu zwingen. Um die Vision einzufangen, musste sie listig vorgehen, musste geduldig einen Faden nach dem anderen sammeln, bis sie die Bedeutung erkannte.
»Hallo!« Das war Bears Stimme hinter ihr am Empfangstisch. »Hallo! Ist jemand hier?«
»Ich glaube nicht«, sagte Malaika und ging zu ihm. »Niemand außer dieser alten Massaifrau dort …« Der Garten war leer.
Bear ließ seine Tasche fallen. »Schon viel besser«, sagte er. »So etwas nenne ich ein Safarilager.«
Malaika folgte seinem Blick. Es gab Bambuswände und schlichte Möbel aus Rohr und Segeltuch. »Keine Hintergrundmusik«, sagte sie.
Bear ging an ihr vorbei, um in den Garten zu spähen. »Keine Zäune.«
»Und kein Pool …« Ihre Stimme verklang, als ihr auffiel, dass auf dem gefegten Sand keine Hibiskusblüten mehr lagen.
»Kein Quatsch mit hübschen Servietten. Keine Kellner mit gestärkten Ärschen. Ich glaube, hier wird es mir gefallen.«
Hinter dem Empfangstisch erklang nun ein Ruf: »Gepäck! Gepäck!
Twende, twende!«
Ein untersetzter Afrikaner in brauner Hose und blauem Sakko tauchte auf. »Guten Tag, Sir, Madam.« Er bedachte sie mit einem gut eingeübten Lächeln. »Willkommen in Cottar’s Camp. Ich werde Ihr restliches Gepäck von jemandem abholen lassen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, rief er noch einmal: »Gepäck! Gepäck!
Twende, twende!«
An seiner Schläfe trat ein kleines Blutgefäß vor.
»Keine Sorge, ich glaube, wir haben schon alles«, sagte Jack, der mit einer voll gestopften Plastiktüte über der Schulter und einer anderen in der Hand hereinkam. »Wir haben unter dem Namen Morgan gebucht. Zwei Zimmer, zwei
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