Die Tränen der Massai
Penina sie verdutzt an, aber dann folgte ihr Blick Malaikas Nicken zum Gemüsegarten hin.
Jack lächelte sie über die flatternden Baumwollstreifen hinweg an. »Hallo.«
Penina sagte: »
Haki ya Mungu!«
Dann sagte sie auf Englisch: »Mein Gott!«
Peninas Berichte, eine unendliche Aufzählung banaler Einzelheiten des Lebens in Mwanza aus den vergangenen neun Jahren, verschlangen eine Stunde. Malaika bedauerte Jack, der stumm vor Langeweile dasaß und zusah, wie die Fliegen unermüdlich gegen die Glasscheiben in dem heißen kleinen Wohnzimmer an der Flughafenstraße stießen. Hin und wieder übersetzte sie etwas für ihn, aber schließlich erhob er sich aus dem Vinylsessel und erklärte, er wolle sich im Garten die Beine vertreten.
Als Malaika versuchte, das Thema Ziada anzuschneiden, verhinderte ihre Mutter das mit einer weiteren Geschichte. Als der zweite und dritte Versuch eine ähnliche Reaktion bewirkten, wuchs Malaikas Unbehagen. »Wo ist Ziada?«, fragte sie schließlich, als ihre Mutter kurz schwieg, weil sie Tee aus der Küche holte.
»Ach, sieh doch nur, ich habe den Zucker verschüttet.« Penina setzte sich an den niedrigen Tisch und wischte mit einem Baumwolltuch herum, hob die Zuckerschale und das Milchkännchen hoch und schob den verschütteten Zucker auf ihre Untertasse.
»Ma, was ist mit Ziada los? Warum ist sie nicht hier?«
Penina stellte die Tasse ab. Sie faltete das Geschirrtuch ordentlich zusammen und tätschelte es auf ihrem Knie flach. »Sie ist weg«, sagte sie leise.
Es dauerte einige Zeit, bis die Geschichte heraus war, aber Penina zögerte nicht länger. Es war, als hätte sie den Deckel von ihrem Korb der Traurigkeit gehoben und könnte nicht mehr aufhören, bis sie rings umher alles verstreut hatte, damit Malaika es begutachten konnte wie Handelsware in einer Marktbude.
Ziada hatte ihr Zuhause vor mehr als einem Jahr verlassen, und ihre Mutter wusste nicht, warum oder wohin sie gegangen war. Sie hatte nichts weiter als ein wenig Kleidung mitgenommen. Sie war sechzehn gewesen, etwa so alt wie Malaika, als sie vor neun Jahren das Haus ihrer Mutter verlassen hatte. Malaika bekam ein schlechtes Gewissen, denn sie erinnerte sich, dass sie versprochen hatte, zurückzukommen und ihre Schwester zu holen, wenn sie es geschafft hatte.
»Es gab also keinen Streit, keine Diskussion? Sie ist einfach verschwunden?«
»
Haki ya Mungu,
ich schwöre bei Gott, sie ist einfach gegangen! Einfach so. Kein Wort zu ihrer Mutter. Nicht eine einzige Nachricht, um mein armes Herz zu erleichtern.«
»Hatten die Lehrer einen Verdacht?«
»Sie war nicht sooft in der Schule. Sie war krank gewesen. Sie hat lange die Grippe gehabt. Ein paar seltsame Schmerzen.«
»Was ist mit ihren Freundinnen? Hast du sie gefragt, ob sie etwas wissen?«
»Ja. Mehr als einmal. Zuerst dachte ich, sie würden mich belügen und sie wüssten, wo sie sich versteckt. Aber am Ende musste ich es glauben.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »O mein Baby! Wo ist sie?«
Malaika tätschelte ihr den Arm, fand aber keine Worte der Hoffnung. Ein Jahr war zu lange für Teenagerlaunen.
»Sie war kein schlechtes Mädchen, weißt du. Sie war einfach nur … unruhig.«
»Unruhig?«, fragte Malaika. »Wie meinst du das?«
»Einfach unruhig. Dauernd in Bewegung. Immer auf der Suche nach etwas Neuem.«
»Kinder sind so, Ma.«
»Oh, aber Ziada war ganz besonders schlimm und konnte nicht aufhören, bis sie alles getan hatte, was sie wollte.« Sie lächelte in ihre Tasse. »Erinnerst du dich, wie es war, als sie anfing zu laufen? Bald schon konnte sie rennen. Und sie ist gefallen. Oh-oh! Wie oft habe ich sie draußen nahe der Straße gefunden. Selbst damals, so winzig wie sie war, rannte sie davon.« Dann schwieg Penina wieder. Als sie fortfuhr, lag eine Spur von Bitterkeit in ihrer Stimme: »Wenn ihr Vater hier gewesen wäre, wäre das nicht passiert. Ein Mädchen braucht ihren Vater, der sie davon abhält, sich herumzutreiben.«
»Aber er arbeitet überall in Tansania.«
»Das waren nur die letzten Monate. Selbst als er hier bei einem Werkzeugmacher in Mwanza gearbeitet hat, war er nicht zu Hause.«
»Wie meinst du das?«
Penina lächelte sie an. »Es ist gut, dass du einen
Mzungu
hast. Ich höre, sie treiben sich nicht herum wie unsere afrikanischen Männer.«
»Hamis?« Malaika musste an den sanftmütigen Mann denken, der während ihrer Kindheit ihr persönlicher beschützender Riese gewesen war. Durch ihre Kinderaugen hatte
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