Die Tränen der Massai
Raubtier.
Naisua und die nächstjüngere ihrer Schwester-Ehefrauen teilten sich die Hütearbeit und trieben außer den Herden noch zwei junge Ochsen mit Haushaltsgegenständen. Jede Frau hatte ein wenig von ihrer Habe in einem Bündel unter dem Arm. Die anderen Frauen trugen ähnliche Lasten und beaufsichtigten die Kinder.
Nach Lenanas Tod hatte Naisua seinen Wünschen entsprechend die Rolle der Klananführerin und des
Laibon
übernommen. Niemand hatte sich widersetzt. Es würde für jeden Anführer eine schwierige Zeit werden.
Die Bindung zwischen Lenanas Frauen war stärker geworden, nachdem ihr Mann tot war. Sendeyos Fluch verdammte sie alle zur Witwenschaft, denn Kinder waren einem Massaimann noch wichtiger als Rinder. Es war bekannt, dass Lenanas Witwen verflucht waren, wenn sie ein weiteres Mädchen zur Welt brachten. Wenn ein Mann keine Kinder haben konnte, war die Heirat den Brautpreis nicht wert.
Naisuas Situation war nicht besser. Sie hatte zwar einen Sohn zur Welt gebracht und konnte dem Fluch vielleicht entgehen, wenn sie weiter männliche Kinder bekam, aber jeder heiratsfähige Mann würde es für ein zu großes Risiko halten, dass sie als Nächstes eine Tochter bekommen und damit ihre gebärfähige Zeit beenden würde.
Die Verbindung zwischen den Frauen war in den Tagen nach Lenanas Tod zwar tröstlich gewesen, aber in der Wildnis des Rift Valley wurde sie überlebensnotwendig. Allein in diesem weiten Grasland, mussten die Frauen nicht nur plündernde Fleischfresser abwehren, die die Herden bedrohten, sondern sich auch mit zornigen Landbesitzern auseinander setzen, die ihr Leben bedrohten. Sie litten unter der Hitze, den Dornen, dem Durst und dem Hunger. Sie litten noch mehr, als die Umsiedlung ihren Preis von Seggi und den vier kleinen Mädchen forderte. Die Mädchen weinten dieser Tage selten. In den ersten Wochen, nachdem sie ihr
Enkang
verlassen hatten, hatte man sich ununterbrochen um sie kümmern und sie trösten müssen. Sie vermissten die Liebe und den Trost der großen Massaifamilie. Aber auf diesem Zwangsmarsch waren die vier Frauen eine Gemeinschaft, die von allen anderen abgesondert war. Es konnte Tage, sogar Wochen dauern, bevor sie Freunden oder auch nur anderen Massai begegneten.
Hin und wieder begann eine der Frauen, leise zu weinen. Es gab kein besonderes Muster. Sie tat es vielleicht in der Gesellschaft ihrer Schwester-Ehefrauen am Abend, vielleicht nicht einmal nach einem besonders schwierigen Tag, aber nie, wenn die Kinder in der Nähe waren. Oder sie weinte in einer friedlichen Nacht, wenn das Vieh und die Raubtiere, die im Dunkeln lauerten, sich ruhig verhielten. Die einsamen Nächte hier draußen konnten für eine Frau, die an den Karneval des
Enkang
gewöhnt war, bedrückend sein; sie redete sich vielleicht ein, dass von all den Tausenden, die die Reise nach Süden begonnen hatten, nur sie und ihr jämmerlicher kleiner Haufen am Leben geblieben waren, um den Weg zu vollenden. Im Dunkeln konnte niemand die Tränen sehen. Oder sie weinte vielleicht früh am Morgen, am trockenen Beginn eines weiteren Tages, von dem man noch nicht wusste, wie er enden würde. Eine Frau konnte dort draußen im Staub an der Flanke der Herde, wo der goldene Vorhang der Sonne sie umschlang, so gut wie verschwinden. Es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn ihre Augen dann feucht wurden. Staub konnte so etwas bewirken.
Wenn die anderen sahen, dass eine Schwester-Frau weinte, stellten sie keine Fragen. Aber am Ende des Tages hatte jede von ihnen eine Möglichkeit gefunden, die emotionale Last ihrer Schwester zu erleichtern.
Der Zwangsmarsch und das Wetter forderten ihren Preis auch von den Herden, ihrem einzigen Besitz. Zuerst war es nur eine Kuh hier, eine Ziege da. Aber als sie in den Grabenbruch hinabstiegen, verringerte sich wegen der gnadenlosen Hitze die Anzahl des Viehs rasch. Lenanas Witwen waren nicht allein in dieser schrecklichen Situation. Wie die vier Frauen, so erlebten alle vertriebenen Massai aus dem Norden nun häufig, dass eines ihrer Tiere in die Knie brach und sich mit dem Starrsinn eines Geschöpfs, das von endlosem Leiden todmüde war, weigerte, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.
Naisua kümmerte sich gerade um einen verletzten Ochsen und rieb eine Salbe auf seine verfilzte Flanke, als Colvan auf seinem Pferd in Sicht kam. Sie lächelte, als er abstieg.
»Sopa,
Naisua. Es ist schön, dich wiederzusehen.« Er führte das Pferd auf sie zu.
»Sopa,
Colvan.« Sie
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