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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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gehe, werde ich nie ein Mann werden. Und ich werde mich nie den
Moran
anschließen können.«
    »Aber du kannst ein neues Leben haben. Eine neue Art zu leben.«
    »Es gibt keine andere Art als unsere. Ich will kein anderes Leben.«
    »Mein Sohn, ich möchte, dass du freiwillig mitkommst …«
    Er blieb mürrisch und ließ sich nicht überreden. »Wenn du mich zwingst, werde ich dich hassen. Ich werde davonlaufen.«
    Penina verbarg den Schrecken und den Kummer, den seine Worte ihr bereiteten. Verzweifelt sagte sie: »Großmutter, kannst du nicht mit ihm reden?«
    Die alte Frau hatte den Jungen beobachtet; sie wandte sich nun Penina zu. In ihrem faltigen Gesicht stand Trauer, aber die alte Kraft war immer noch zu erkennen. Es gab Zeiten, in denen Penina glaubte, diese uralten Augen hätten die Macht, die ganze Welt in Schach zu halten. Sie bemerkte, dass sie den Atem anhielt. Das Zögern ihrer Großmutter beunruhigte sie.
    »Penina, dein Sohn ist kein Kind mehr«, sagte Naisua schließlich. »Wenn er irgendein anderer Junge aus dem Dorf wäre, würde ich sagen, ja, nimm ihn mit. Er wird dort draußen ein neues Leben finden.« Sie sah den Jungen an, der steif und schweigend am Rand des Laternenlichts stand. »Viele andere Jungen werden das Dorf verlassen, sobald sie können. Einige interessieren sich nicht einmal mehr für die Beschneidungszeremonie. Sie haben genug vom Dorfleben. Es gibt so viel in den Städten, was sie begeistert, und hier gibt es nichts. Aber dieser hier« – sie stellte sich neben ihn und tätschelte seine Schulter – »war immer ein Massaijunge. Er ist ein guter Jäger. Er hat gelernt, wie man Waffen herstellt, und schließt sich den
Moran
bei ihren Übungskämpfen an. Er hat das Blut des
Großen Laibon
in sich, und eines Tages, wenn er sich würdig erweist, wird er selbst ein
Laibon
sein.«
    Penina wusste, dass es ihre Großmutter quälte, ihr solchen Kummer bereiten zu müssen, aber sie wusste auch, dass die Worte der alten Frau wie immer aus dem Herzen kamen.
    »Er würde welken wie eine Lilie in der Wüste, wenn du ihn wegbrächtest«, sagte die alte Frau schließlich.
    Penina schaute von dem traurigen Lächeln ihrer Großmutter zu Hamis, dem Felsen, der ihr Kraft zu geben schien. Sie nahm ihre Tochter in die Arme, suchte vertrauten Trost, während sie ihre Gedanken ordnete, aber Malaika blieb auch in ihrer Umarmung starr. Gestern war es noch eine unaussprechliche Sünde gewesen, das Dorf mit einem anderen Mann zu verlassen. Nun schlug ihre Großmutter vor, dass sie auch eines ihrer Kinder zurücklassen sollte. Wie konnte sie Entscheidungen treffen, die vor einer Stunde noch unbegreiflich gewesen waren?
    Ihr Sohn stand vor ihr und wartete trotzig auf eine Antwort. Penina fand etwas in seinen Augen, das am Tag zuvor noch nicht da gewesen war. Er war gewachsen; selbstverständlich nicht an Größe, aber in anderer Hinsicht. Sie hatte einen jungen Mann vor sich. Es schien erst Tage her zu sein, dass sie ihn zur Welt gebracht hatte. Aber jetzt, mit zehn Jahren, stand er kurz davor, den einzigen Ehrgeiz zu erfüllen, den er ihr je anvertraut hatte – ein echter Mann zu werden, ein
Morani
der Massai. Sie sah, dass er die selbstsichere Haltung eines Menschen eingenommen hatte, der einer Sache vollkommen ergeben ist, und sie wusste, dass sie ihn für immer verlieren würde, wenn sie darauf bestand, dass er mitkam.
    »Lass ihn bei mir«, sagte Naisua, die offenbar ihre Gedanken gelesen hatte. »Wenn er der
Morani
wird, der er sein muss, wird er auch Mann genug sein, zu dir zu kommen und sich deinen Segen geben zu lassen.«
     
    Der Kenia-Tansania-Expressbus fuhr mit zehn Stunden Verspätung in den Busbahnhof in Mwanza ein. Der
Konda
stieg aufs Dach und warf den schläfrigen Menschen Taschen und Bündel zu. Hamis schob sich mit seinen schweren Werkzeugtaschen und Peninas kleinem Bündel durch das Meer von Fahrgästen.
    »Komm, ich bringe dich aus dem Gedränge weg, und dann hole ich Malaika.« Er führte sie über die Straße zu einem sandigen Randstreifen, stelle die Taschen vor ihre Füße und kehrte zum Bus zurück, um das Kind zu holen. Penina hatte auf der Fahrt wenig geschlafen, obwohl es beinahe zwei Tage her war, seit sie aus Isuria geflohen waren. Hin und wieder, wenn die Erschöpfung sie überwältigte und sie tatsächlich eingeschlafen war, war sie voller Panik wieder erwacht, bis sie Hamis neben sich spürte.
    Die gelbe Morgendämmerung kämpfte sich durch den Nebel, der über dem

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