Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Prunelle, die sie mit ihren braunen Augen zutraulich ansah.
Marguerite war mit ihren sechzehn Jahren sehr anmutig. Ihr Teint war etwas dunkler als der ihrer Mutter, ihr Haar weniger rötlich und ihre Augen eher grau. Aber Louise und Marguerite besaßen beide einen natürlichen Charme. Manchmal hatte man den Eindruck, die beiden ergänzten sich, und man spürte ihr inniges Verhältnis.
Der harmonische Kontrast zwischen Mutter und Tochter ließ sich auch an der Wahl ihrer Toilette beobachten. Kleidete sich die eine in Pastellblau, wählte die andere Dunkelblau. Entschied sich Marguerite für ein weißes Kleid, trug ihre Mutter ein braunes.
An diesem Abend trug die Jüngere ein hellgrünes, pastellgrau schillerndes Kleid, das sehr schön zu ihren Augen passte, und Louise strahlte in einem smaragdgrünen Kleid. Die blonden Haare
der einen fielen in leichten Wellen auf ihren Rücken, während die roten Locken der anderen vorwitzig unter einer grünen Samthaube hervorspitzten.
»Woher habt Ihr nur Eure ausgezeichnete Bildung?«, wollte Bourbon nun wissen und warf begehrliche Blicke auf Marguerites hübsches Dekolleté, das ihr eckig ausgeschnittenes Kleid sehr schön zur Geltung brachte.
Das junge Mädchen antwortete nicht sofort. Würde ihre Mutter zulassen, dass sie eine Antwort gab, die sich eigentlich nicht gehörte, obwohl sie darauf brannte, etwas zu sagen?
Bourbons Blick wanderte von Marguerites Dekolleté zu ihren schönen grauen Augen. Es war sonst nicht ihre Art, einer Frage und schon gar nicht einem Blick auszuweichen. Aber Charles de Bourbon machte sie verlegen. Hilfe suchend sah sie zu Antoinette, die sie beobachtete.
»Wenn ich Euch so reden höre, lieber Cousin, habe ich das Gefühl, Ihr gehört zu den Männern, die glauben, Frauen wären viel zu unbedeutend, um gebildet zu sein.«
Seinem Blick standzuhalten wäre einer Herausforderung gleichgekommen, während sie ihm doch zeigen wollte, dass er ihr gleichgültig war. Sie sah ihn also nur kurz an. Nun musste ihre Mutter lächeln. Wozu sollte sie eingreifen? Ihre Tochter wusste sich sehr gut selbst zu verteidigen.
»Nehmt doch noch ein wenig von diesen köstlichen Erbsen«, forderte sie Charles auf. »Sie liegen Euch gewiss nicht schwer im Magen. Das hat uns die Köchin versprochen.«
»Was weiß Eure bezaubernde Jeannette denn sonst noch so alles?«
»Sie kennt die meisten Küchengeheimnisse«, gab Louise zurück. »Mehr verrate ich aber nicht. Außer Ihr wollt wissen, mit welchem Gemüse Ihr nach den Torten, Früchten, Schokoladen und all den
anderen Desserts vor dem Schlafengehen Eure Blase erleichtern könnt.«
»Mit Lauch!«, rief Marguerite und lachte ungewöhnlich laut.
René platzte ebenfalls heraus. Erschrocken, weil er sich so hatte gehen lassen, hielt er sich die Hand vor den Mund.
Sogar Antoinette hatte gelächelt. Wieder einmal war es Louise gelungen, die Tischgesellschaft aufzuheitern, als die Stimmung wegen Bourbons übermäßigem Interesse an Marguerite zu kippen drohte.
Die Comtesse d’Angoulême trank mehr Wein als sonst. Während sie zu Beginn des Abends irritiert gewirkt hatte, schien sie sich jetzt nicht mehr um die Aufmerksamkeit zu kümmern, die der Duc de Bourbon ihrer Tochter schenkte. Dieses Verhalten beruhigte wiederum Antoinette, weil es nur bedeuten konnte, dass Louise ihrer Tochter wie üblich vertraute.
Als Charles seine Cousine das letzte Mal gesehen hatte – lange vor dem letzten Feldzug nach Mailand –, war sie noch sehr kindlich, unbekümmert und verspielt gewesen, einfach noch viel zu jung, als dass man ihre Schönheit hätte ahnen können.
Vorsichtig tastete sich Charles unter dem Tisch mit dem Fuß vorwärts, um den von Marguerite zu berühren. Wer hätte das sehen sollen? Er merkte, dass die Berührung das junge Mädchen nicht zu stören schien, während er mit der gleichen zärtlichen Methode und seinem anderen Fuß längst Louises Begierde geweckt hatte. Schon seit die Täubchen aufgegessen waren, rieb sich ihr zierlicher Satinschuh sehnsüchtig an Charles’ Schuh.
Wenn Louise so heftig auf diese Berührung reagierte, konnte doch auch Marguerite nicht unempfänglich dafür bleiben, und er drückte ihren kleinen Fuß noch fester.
Diesmal reagierte sie ganz bewusst auf seine arrogante Zudringlichkeit. Wenn schon, denn schon, dachte sie sich und brach in
schallendes Gelächter aus, natürlich auf Kosten von Charles, den sie damit treffen wollte. Bourbon begriff sofort, dass er sich getäuscht
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