Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
sehr geschickt leitete. Hier vermarkteten sie die Teppichwaren, die aus Rom und Florenz bestellt wurden. An Arbeit mangelte es durchaus nicht, aber seit Papst Alexander Borgia gestorben und Julius II. nachgerückt war, kam es zu Spannungen zwischen dem Vatikan und Frankreich, die sich auch auf ihr Geschäft auswirkten.
Alix und Julio hatten stets ein wachsames Auge auf die Wünsche der italienischen Auftraggeber, um zu erfahren, wo sie orderten. Zum Glück konnte auch Kardinal Jean de Villiers, der noch
immer auf seinem Posten im Vatikan war, die italienische Produktion überwachen und Alix’ Werkstätten gelegentlich einen größeren Auftrag zukommen lassen.
Gegenüber den Kommanditären in Flandern, deren Machtposition seit der Ausbreitung der italienischen Renaissance ohnehin geschwächt war, genoss Alix einen weiteren Vorteil. Alessandro hatte einen Wohnsitz in Brügge und hielt sich dort immer wieder regelmäßig auf, wodurch er einen guten Überblick über die Geschäfte der flämischen Kontore hatte. Deshalb kam es gar nicht selten vor, dass Alix Aufträge aus Lille, Arras, Tournai, Audenarde, Enghien und natürlich auch aus Brügge bekam.
»Du wirst ja immer schöner, Angela!«, begrüßte sie Alix. »Julio kann von Glück sagen, dass er so eine hübsche Schülerin hat. Machst du denn Fortschritte in deiner Lehre?«
»Angela kann bald Arbeiterin werden. Sie stellt sich sehr geschickt an.«
»Das freut mich. Da habe ich mich also nicht in ihr getäuscht. Und in dir auch nicht, Julio. Du bist ein hervorragender Lehrmeister.«
Julio wurde rot, und sie wusste, dass seine zärtlichen Gefühle, die er von Anfang an für das junge Mädchen hegte, noch mehr geworden waren.
»Ich kann schon an einem Flachwebstuhl arbeiten, Alix!«, rief Angela. »Ich weiß, wie ich die Kettfäden spannen und wie ich die Unterlage gestalten muss. Julio hat mir alles beigebracht.«
Sie lief zu ihm und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund. Julio bereute es wohl in dem Moment keinesfalls, sich nicht für den Priesterberuf entschieden zu haben. Als Weber hatte er jetzt die besten Zukunftsaussichten, und als krönende Zugabe hatte sich auch noch das schönste Mädchen der Welt in ihn verliebt.
»Wie ich sehe, bist du mit den Teppichen zu den verschiedenen
Berufen schon viel weiter, als ich dachte, Julio«, stellte Alix zufrieden fest.
»Die Waldarbeiter habe ich gerade fertig bekommen. In ein paar Tagen möchte ich mit den Arbeitern auf dem Feld beginnen. Sieh nur, Alix, der Teppich ist sehr ungewöhnlich gestaltet.«
»Ich finde, er hat viel Ähnlichkeit mit den Holzarbeitern von Grenier.«
»Aber doch eigentlich nur durch das bestimmende Rot und Blau auf dem Millefleurs, sonst ist die Komposition ganz anders. Die Männer arbeiten hart, sie sägen und schneiden und holen mit dem Beil aus. Aber bei mir gibt es keine Tiere und keine Vögel, keiner ruht sich von der Arbeit aus, es wird nicht gegessen oder getrunken, und es pflückt auch keiner Obst von den Bäumen.«
»Das stimmt, Julio. Dein Teppich ist eigenwillig gestaltet und sehr schön. Ich glaube, du bist ein wahrer Meister deiner Zunft.«
Jetzt lächelte er und wurde nicht mehr rot. Julio war in der Tat ein verantwortungsbewusster Mann und Meister geworden.
»Es gehen immer mehr Aufträge bei uns ein, Julio. Wahrscheinlich sollten wir noch einen oder zwei Arbeiter einstellen. Oder wir müssen einen Teil an die Pariser Werkstätten vergeben.«
Anfang April hatte Alix ihre Entscheidung getroffen. Sie schickte Leo mit einem Brief nach Dijon zu Constance, in dem sie sie über ihre bevorstehende Reise nach Florenz unterrichtete. Sie schloss das kurze Schreiben mit den Worten: »Lass dich von Leo mitnehmen, wenn du mich begleiten willst.«
Der Brief, den sie an dem Tag erhielt, an dem sie auf Leos Rückkehr wartete, stimmte sie ratlos, was ihre dringende Abreise betraf. Sie entschied sich aber schließlich doch, ihre Pläne nicht zu ändern.
Der Brief war von der Comtesse d’Angoulême. Alix las ihn zweimal,
und als sie sich zum dritten Mal an die Lektüre machte, sagte sie sich, dass nichts ihre bevorstehende Reise verhindern konnte.
Meine liebe Alix,
heute habe ich mich entschlossen, Euch zu schreiben, weil ich weiß, dass Ihr bald nach Italien aufbrecht und ich nicht wollte, dass Euch dieser Brief verpasst.
Die Ereignisse überstürzen sich, und die Lage verändert sich täglich – so berichten es jedenfalls die Boten, die von Blois nach Mailand und zurück
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