Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
spät. Sie nahmen das Neugeborene mit. Leider weinte es nicht einmal, sonst hätten es die Reiter vielleicht bemerkt.
»Oh, Seigneur d’Amboise! Dame Alix bekommt ihr Kind.«
»Dem Himmel sei Dank – wir haben sie gefunden!«, rief der seinen Begleitern zu, und sie kamen näher. »Ich muss sie so schnell es geht nach Frankreich zurückbringen.«
Keiner der Männer beachtete die Frau, die mit dem Kind flüchtete und auf ein schnelles Pferd sprang, das ein junger Mann bereithielt.
Tania blieb allein mit Alix zurück und wusste nicht, was sie tun sollte. Seit der Geburt des ersten Kindes war etwa eine Viertelstunde vergangen, als die Gebärende wieder zu schreien begann.
»Wacht doch auf, Alix!«, bettelte Tania. »Das Kind kommt.«
Dass Alix bis zum Bauch entblößt und mit gespreizten Beinen vor ihnen lag, schien die Herren nicht zu stören. Zur damaligen Zeit, als sehr viele Kinder kurz nach der Geburt starben, machte man kein Aufheben um eine Niederkunft. Wenn ein Kind den Kopf aus dem Bauch seiner Mutter streckte – und war es auch mitten im Krieg, zwischen Kanonendonner und toten Soldaten –, ging es einzig und allein darum, das Kind am Leben zu halten.
»Helft ihr doch, damit das Kind kommt, anstatt so zu flennen!«, herrschte d’Amboise die arme Tania an und schüttelte sie.
Tania unterdrückte ein Schluchzen. Musste der Mann jetzt auch noch mit ihr schimpfen? Sie lief wieder zu Alix und flehte zum Himmel, das Kind möge von allein zur Welt kommen, damit sie es nicht wie die widerliche Frau zuvor holen musste.
»Ihr müsst pressen!«, rief plötzlich einer der Männer von den seltsamen Umständen berührt.
»Ja, presst doch!«, rief ein anderer. »Macht schon, presst!«
Charles d’Amboise beobachtete die Szene gelassen und versuchte sich vorzustellen, wie schön diese Frau sein müsste, wenn sie wieder schlank und rank war.
»Es kommt! Seht nur, das Kind kommt endlich!«
Die zweite Tochter von Alix kam sanft zur Welt. Tania zitterte zwar am ganzen Körper, fing das Mädchen aber auf, als Alix gerade die Augen öffnete. Seltsam – mit einem Mal waren ihre Schmerzen wie weggewischt, und sie beruhigte sich endlich. Was war nur geschehen? Zweimal wäre sie beinahe gestorben.
»Es ist ein Mädchen!«, rief einer der Männer, »und was für ein hübsches kleines Ding!«
Charles d’Amboise zog Tania am Arm. Was wollte er denn jetzt noch? Er zog sein Messer aus dem Gürtel und reichte es ihr.
»Ihr müsst noch die Nabelschnur durchschneiden.«
Tania nahm das Messer, konnte aber nicht hinsehen, als sie die Nabelschnur durchtrennte.
»Das Kind muss schreien«, verlangte d’Amboise. »Es muss seinen ersten Schrei tun.«
Oft genug hatte er erlebt, wie seine Frau niedergekommen war, und wartete jetzt auf ein Lebenszeichen.
Tania verstand nicht, was er von ihr wollte.
D’Amboise zuckte die Schultern, nahm das Neugeborene und hielt es an den Füßen hoch. Sofort schrie die Kleine, und alle lachten erleichtert.
Tania hatte Alix schnell ihr Kleid über die Beine gezogen.
»Wo ist das andere Kind, Tania?«, fragte Alix, die sich zusehends erholte.
Tania fuhr erschrocken zusammen, sie schwankte, und der Schweiß lief ihr über die Stirn.
»Welches andere Kind?«
»Das andere Kind, das geschrien hat, als ich es geboren habe. Ich weiß genau, dass ich noch ein Kind geboren habe.«
»Ihr müsst Euch jetzt erst mal ausruhen«, versuchte Charles sie zu beruhigen und nahm ihre Hand. »Das war alles zu viel für Euch. Aber Ihr habt ein hübsches kleines Mädchen bekommen.
Ihr werdet sehen, morgen geht es Euch schon besser. Wir wollen Italien über die Herzogtümer Mailand und Piemont verlassen. Ich bringe Euch persönlich zurück nach Tours. Macht Euch keine Sorgen.«
Aber Alix blieb hartnäckig und sah sich suchend um.
»Wo ist mein zweites Kind? Ich will es sehen.«
Nun runzelte d’Amboise fragend die Stirn. Fantasierte die Frau wirklich? Aber als er gerade dieser doch sehr merkwürdigen Frage nachgehen wollte, rief einer der anderen Reiter vergnügt:
»Es gibt nur ein Kind, Madame! Es ist ein Mädchen – und ich wette, es wird einmal genauso schön wie seine Mutter. Zum Teufel! Wer ist eigentlich der Vater?«
Diese Frage lenkte Alix ab, und sie fragte nicht mehr nach dem Kind. Die ganzen Explosionen hatten ihr wohl den Verstand geraubt. Tage und Nächte lang gefesselt und geknebelt und ohne Wasser und Brot – da musste man ja verrückt werden! Sie lächelte ihre Tochter an.
»Was ist
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