Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
reiten.«
Gesagt, getan. Charles d’Amboise war sehr beeindruckt von dem schönen Anblick, den Pferd und Reiterin boten. Alix hatte eine sehr gute Haltung. Seit der Duc de Barry ihrer Vorfahrin Léonore ein Pferd geschenkt hatte und diese bald zur besten Reiterin am Hofe wurde, konnten alle Damen aus dem Haus Cassex ausgezeichnet reiten.
Alix machte da keine Ausnahme. Sie war zwar keine geborene Cassex, hatte aber einen Cassex geheiratet und das Beste daraus gemacht: Schön, mutig, willensstark und unabhängig war sie – weshalb sie ihre Cousine Constance so gut verstehen konnte –, eine geschickte Geschäftsfrau und ein Mensch, der immer vorwärts wollte. Noch etwas hatte sie von den Damen Cassex geerbt: Sie waren heißblütig und stets bereit für die Liebe.
Wie eine Königin kam sie auf Charles d’Amboise zu. Die lange Schleppe schmückte eine von Cesarines Flanken, und unter einem weit ausgeschnittenen eckigen Dekolleté sah man ihren schönen weißen Busen, den d’Amboise ausgiebig bewunderte.
Unwillkürlich verglich er Alix mit seiner Frau, die trotz ihrer edlen Abstammung nicht so vornehm aussah.
»Da bin ich, Charles. Wollen wir uns ein wenig unterhalten? Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, wenn ich Euch Charles nenne?«
»Es kommt mir so vor, als hätte ich Euch ohnehin schon Alix genannt.«
»Das stimmt, Charles«, wiederholte sie, während sie sich zu ihm gesellte. »Was wisst Ihr über Alessandro? Jetzt können wir über ihn sprechen, weil kein französischer Soldat in der Nähe ist.«
»Ich habe Euch tatsächlich etwas zu sagen, aber ich fürchte, es wird Euch schockieren.«
»Warum? Ist er gefangen?«
»Nein.«
»Hat ihn Julius II. wieder gefasst?«
»Er starb, ehe ihn der Papst ausfindig machen konnte.«
Alix griff sich mit der Hand an den Kopf. Als Charles sah, dass sie im Sattel schwankte, sprang er vom Pferd und stürzte zu ihr.
»Kommt auf mein Pferd«, sagte er und wollte sie auffangen.
»Nein, lasst mich. Es geht schon. Ich brauche keine Hilfe.«
Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, an die mahnenden Worte von Jean de Villiers, der sie vor dieser unvernünftigen Liebe warnen wollte, an die Ermahnungen ihres Freundes André Mirepoix, die in dieselbe Richtung gingen, und vor allem an das vorwurfsvolle, anklagende Schweigen von Mathias, der diese zerstörerische Leidenschaft mehr als irgendjemand sonst verurteilt hatte. Diesen irren Rausch, der sie von allem fernhielt – von ihren Werkstätten, von ihren Aufgaben als Weberin, von ihren Lieben und vor allem von ihm, der sie so sehr achtete, verehrte und liebte.
Er war tot! Alessandro war tot! Sie musste ihn vergessen, auf der Stelle vergessen. Sonst würde sie wieder in einer schrecklichen Melancholie versinken wie damals, als ihr die Pest ihren Jacquou geraubt hatte. Nur die Freundschaft mit Domherrn Mirepoix und Mathias mit seiner Liebe hatten sie aus dieser Erstarrung geholt. Nein, das stimmte nicht, auch der kleine Nicolas und ihre Arbeit und ihre Reise nach Flandern, wo sie der Gilde ihr Meisterstück präsentiert hatte, damit sie endlich mit ihren Erzeugnissen handeln durfte, hatten sie gerettet.
Aber was war ihr jetzt noch geblieben, um diese Liebe zu vergessen? Ihre Tochter! Die kleine Valentine, die ein Recht darauf hatte zu leben. Sie würde sich in ihre Arbeit stürzen und darüber
Alessandro vergessen, so wie sie es auch nach Jacquous Tod getan hatte.
»Warum wollte Alessandro die Truppen des Pontifex nicht finanzieren?«, hörte sie sich d’Amboise mit eisiger Stimme fragen.
»Das wäre zu gefährlich gewesen. Die Medici haben es ihm verboten. Sie fürchteten, Julius II. wäre nicht in der Lage, seine Schuld zu begleichen.«
»Was ging das die Medici an?«
»Alessandros erste Frau war eine Medici, und auch seine Söhne sind Medici.«
»Richtig, das hätte ich beinahe vergessen«, seufzte Alix. »Die Medici!«
Plötzlich begriff sie, dass sie in dieser Welt ein Niemand war. Was konnte sie gegen die Medici ausrichten? Sollte sie etwa mit der kleinen Valentine im Arm an ihre Türe klopfen? Sie würden sie einfach auf die Straße werfen, so wie es auch schon Maître de Coëtivy mit ihr gemacht hatte. Nein, das war unmöglich! Stattdessen musste sie ihre Kontakte zu den Teppichwebern, den Künstlern, Malern und Kaufleuten erneuern. Seit zwei Jahren hatte sie sich von einem Geliebten sanft einlullen lassen, der sie mit Geld überhäufte, damit sie nicht allzu viel arbeiten musste. Immerhin, ihre
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