Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
ihren Augen drehte sich alles. Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren.
Die Kanonenkugel war in die linke Seite des Wagens geschlagen und hatte sie aufgeschlitzt, sodass die Kutsche jetzt wie ein Kadaver im Dreck lag. Die Wucht, mit der sie von der Straße gestürzt war, hatte die beiden Frauen durch die Luft geschleudert und sie waren wie zwei Lumpenbündel auf einem weichen grünen Teppich gelandet. Das hatte ihnen das Leben gerettet. Ein Baum, ein Mäuerchen, ein Graben – jedes noch so kleine Hindernis wäre ihr Todesurteil gewesen.
Zwei mit Lanzen bewaffnete Soldaten kamen auf sie zu. Tania
weinte verzweifelt, weil sie Alix nicht helfen konnte, die sich vor Schmerzen wand.
Als er Alix’ erstickte Schreie hörte, kam einer der Männer näher und sah ihren dicken Bauch.
»Die Frau ist ja schwanger!«
Ohne sich mit seinem Kameraden abzusprechen, nahm er ihr den Knebel aus dem Mund, ließ sie aber gefesselt.
»Ich will zum König von Frankreich!«, rief Alix sofort, holte tief Luft und kam wieder zu Kräften.
»Euer Kutscher, den die Kugel zerfetzt hat, war ein Soldat«, sagte der Hellebardier und stützte sich auf seine Lanze. »Das heißt, Ihr seid eine Gefangene. Könnt Ihr mir erklären, was das alles zu bedeuten hat?«
»Ich bin Französin. Man hat mich versehentlich festgenommen, als ich mit Seigneur Charles d’Amboise unterwegs war. Ich bitte Euch, nehmt mir die Fesseln ab.«
Natürlich beging Alix nicht noch einmal den Fehler, den Florentiner Alessandro zu erwähnen. Sie behielt seinen Namen für sich, um ihr Leben und das Leben ihres Kindes zu retten. Vor lauter Aufregung wurde ihr schwindlig, als ihr der Soldat die Fesseln abnahm.
»Bitte befreit auch meine Dienerin.«
Was dann geschah, bekam Alix nicht mehr mit. Sie stieß einen schrecklichen Schrei aus und griff sich mit beiden Händen an den Bauch. Wie hätte sie erkennen sollen, wer sich da über sie beugte, als das Fruchtwasser abging und das Kind kam?
Der Reiter, der ihnen gefolgt war und dessen Pferd sie seit Mantua gehört hatte, kam näher. Tania unterdrückte einen Schrei – sie hatte ihren Bruder erkannt. Hinter ihm stand eine Frau in einem weiten schwarzen Umhang. Sie stieg vom Pferd und ging zu Alix.
»Lasst mich vorbei«, sagte sie herrisch und schob die Soldaten zur Seite. »Ich bin Hebamme und werde jetzt das Kind holen.«
»Nein!«, schrie Tania und trommelte mit den Fäusten verzweifelt gegen die Brust ihres Bruders. »Nein! Bitte nicht, Theo! Lass ihr das Kind. Das hat sie nicht verdient. Sie ist sehr gut zu mir, und dir will sie auch nichts Böses!«
Der junge Mann schob seine Schwester sanft von sich. Die fremde Frau, der man keine Regung ansah, kam auf sie zu, musterte sie ungeduldig und befahl Theo leise:
»Sag ihr, sie soll den Mund halten, Theo. Bring sie zum Schweigen, oder ich lasse dich hier unverrichteter Dinge zurück. Ich habe keine Lust, den Argwohn dieser Männer zu wecken. Deine Schwester hat sie ohnehin schon misstrauisch gemacht. Genug damit! Hast du mich verstanden?«
»Habt Ihr etwa noch nie eine Frau gesehen, die ein Kind bekommt?« , bellte sie dann die Soldaten an. »Verschwindet, meine Herren, und lasst mich meine Arbeit tun.«
»Nein!«, schrie Tania wieder. »Bitte nicht, Theo!«
Die Frau verpasste ihr zwei schallende Ohrfeigen und sah sie mitleidlos an.
»Hast du jetzt genug, oder willst du noch mehr davon?«, fragte sie und wandte sich wieder Alix zu, die vor Schmerz brüllte. Um sie herum wurde es immer chaotischer. Man hörte eine weitere Explosion; die Kugel pfiff an ihnen vorbei und traf die beiden Soldaten, schleuderte sie durch die Luft und zerfetzte sie.
Schemenhaft sah Tania Leichen, flüchtende Menschen und stürzende Pferde. Irgendjemand schrie nach Verstärkung. Welche Verstärkung? Wer war hier überhaupt wer? Waren es Schweizer Söldner, die für den Kaiser von Österreich kämpften, oder Söldner des Herzogs von Ferrara oder französische Soldaten?
Ohne sich weiter um das Tohuwabohu um sie herum – das Geschrei, das Zischen der Pfeile und die grollenden Kanonen – zu kümmern, spreizte die Frau Alix’ Beine unsanft auseinander. Nach einer kurzen Ohnmacht war die wieder zu sich gekommen und schrie vor Angst und Schmerz. In den kurzen Pausen zwischen zwei Wehen murmelte sie die Namen von Constance, Angela und Tania vor sich hin, weil sie nicht wusste, wer bei ihr war. Sie ertappte sich sogar dabei, dass sie nach Jacquou rief. Ach, warum hatte der Himmel denn
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