Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Euch denn ihr Gesicht wenigstens?«
»Oh ja, Sire! Außerdem bin ich Meister Perugino sehr dankbar für seine hervorragenden Ratschläge.«
Nun ging Louise auf die Freundin zu und nahm ihre Hände, denn in Gegenwart des Königs verlangte das Protokoll so wenig Umarmungen und Herzensergüsse wie möglich.
»Ich bin sehr glücklich, Euch hier in Blois zu sehen, Alix. Wann müsst Ihr wieder abreisen?«
»Ich fürchte morgen.«
»Wollt Ihr nicht einen Umweg über Amboise machen, ehe Ihr nach Tours zurückkehrt?«
»Ich glaube nicht, Louise. Vielleicht etwas später, wenn es Euch recht ist. Ich will jetzt erst nach Florenz reisen.«
»Oh, nach Florenz! Sire Van de Veere ist also wieder dort?«
»Ja, schon lange. Ich muss ihn über die guten Fortschritte auf dem Laufenden halten, die unser Kontor im Val de Loire macht. Nebenbei hoffe ich, mit einigen größeren Aufträgen nach Hause zurückzukommen.«
»Sehr gut«, sagte Louise und lächelte flüchtig, weil sie wusste, dass auch der Florentiner Bankier nicht selbstlos dachte. Darüber wollte sie jedoch nicht in Gegenwart des Königs sprechen.
Der folgte aber gar nicht mehr der Unterhaltung der beiden Frauen, sondern wandte sich an seine Tochter.
»Meint Ihr nicht, dass Ihr Euch in dieser Pose ein wenig zu sehr gehen lasst, Claude?«, fragte er besorgt und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Eine aufrechte Haltung ermüdet mich, Vater. Dafür dauern die Sitzungen viel zu lang«, fügte sie hinzu und zog eine Schnute.
Die Comtesse d’Angoulême trat zu dem jungen Mädchen und nahm ihre Hand. Louise empfand große Zuneigung zu der zukünftigen Gattin ihres Sohnes, diesem zerbrechlichen, zarten und gehorsamen Wesen, wahrscheinlich weil sie ahnte, dass dieses unschuldige, ehrliche Kind mit seinem gemäßigten Temperament kaum den Ehrgeiz entwickeln dürfte, sich in die politischen Entscheidungen von François einzumischen, wenn der erst an der Macht war.
Dann strich sie ihr behutsam einige widerspenstige Locken aus der Stirn und küsste sie auf ihre zarte weiße Haut.
»Das ist jetzt schon die zweite Liebesbezeugung, von der mein Modell nur sehr abgelenkt wird«, grummelte Maître Perugino. »Bitte, Prinzessin, nehmt wieder Eure Pose ein.«
»Darf ich mich denn nicht ein wenig ausruhen, wenn mein Vater zu Besuch ist? Mein Rücken tut mir weh, und ich bin ein wenig erschöpft.«
Louise strich Claude über ihr glänzendes nussbraunes Haar mit den rotgoldenen Reflexen. Ihre großen grauen Augen lenkten davon ab, dass ihr Gesicht ein wenig breit und die Lippen eine Spur zu dick waren. Haare und Augen waren die einzigen Trümpfe der schüchternen Prinzessin mit dem traurigen Lächeln.
»Wie schön Euer Haar ist!«, sagte Louise. »Ihr solltet es öfter offen tragen. Wer hat Euch heute frisiert?«
»Das war Alix, Madame.«
»Ich finde, mit der Frisur sieht sie ganz bezaubernd aus«, sagte Alix und ging zu Claude.
Sie richtete ihren Oberkörper ein wenig auf und legte ihr eine lange Haarsträhne über die Schulter. Dann trat sie etwas zurück, warf einen prüfenden Blick auf das Modell, ging wieder zu ihr und drapierte eine zweite Strähne direkt daneben.
»Sie hat wirklich sehr schöne Haare«, fand Alix.
»François sagt das auch immer. Er mag es nicht, wenn ich sie flechte.«
»Da hat er sehr recht, dieser François«, stimmte Louis XII. gut gelaunt zu. »Die Haare sind dazu da, Euer Gesicht zu umrahmen. Ihr seid sehr hübsch, meine kleine Claude.«
»Ist das wirklich Euer Ernst, Vater?«, fragte das Mädchen und errötete vor Freude.
»Ja doch, so gefallt Ihr mir am besten.«
»Mutter sagt, das sei gar nicht vornehm und die Haare gehörten unter die Haube und sollten sich nicht ins Gesicht verirren.«
»Und ich sage Euch, dass Ihr später noch genug Zeit habt, Euer hübsches Gesichtchen unter einer langweiligen Haube zu verstecken«, entgegnete ihr Vater.
»Wie Ihr seht, sind wir uns in diesem Punkt alle einig, Prinzessin Claude«, meinte Alix und lächelte das Mädchen an. »Nur Maître Perugino hat seine Meinung dazu noch nicht kundgetan.«
»Ich bin im Moment nur der Meinung, dass mein Modell von diesem überfallartigen Besuch viel zu sehr gestört wird«, erklärte der. »Wenn wir immer wieder so von der Arbeit abgehalten werden, werde ich das Portrait nie fertigstellen.«
Mit entschlossener Miene trat er zu Claude, nahm sie an den Schultern und zwang sie, sich zurückzulehnen, einen Ellenbogen auf die Bank zu stützen und die andere Hand vorn
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