Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Reichlich unsanft griff er nach ihrem Arm. Sie riss sich genauso brüsk los und trat einen Schritt zurück, aber er zog sie wieder an sich.
»Betrügst du mich, Alix?«
»Nein.«
»Dann erkläre mir das bitte!« Seine Stimme klang nach wie vor sehr kühl. »Ich verabscheue Theater, wie es das gemeine Volk veranstaltet.«
»Und ich verabscheue die Ungerechtigkeiten, die sich die Mächtigen erlauben, weil sie meinen, sie hätten das Recht gepachtet.«
Wieder griff er nach ihrem Arm und wollte sie zu einem Sofa ziehen, aber sie wehrte sich und trat ans Fenster.
Der Diener Adrian steckte den Kopf zur Tür herein.
»Habt Ihr einen Wunsch, Seigneur Van de Veere?«
»Nein, lass uns allein. Ich will jetzt nicht gestört werden.«
Die Tür schloss sich leise.
»Was hast du also zu deiner Verteidigung vorzubringen?«
»Zu meiner Verteidigung! Ich muss mich nicht verteidigen.«
»Dann erkläre mir bitte, wer dieser Mann ist.«
»Das habe ich schon getan, er ist mein Kompagnon.«
Er kam ganz nahe. Durch den Vorhang fiel ein Streifen blasses, gedämpftes Licht ins Fenster und kündete von der kalten, nebligen Jahreszeit und den ersten Winterfrösten.
Um Haltung zu bewahren, schob Alix den Vorhang auseinander und betrachtete einen Moment lang das Laub der Bäume, die von Tag zu Tag kahler wurden.
Alessandro packte sie an den Schultern, schüttelte sie und zwang sie, sich zu ihm zu drehen. Er durchbohrte sie mit wütenden Blicken. Jetzt konnte er seinem Zorn freien Lauf lassen, weil sie unbeobachtet waren. Er ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen.
»Du hältst mich zum Narren, Alix. Du willst mich zum Narren halten, und das lasse ich mir nicht gefallen!«
Alix lachte traurig.
»Wirst du mich zerstören, wie er gesagt hat?«
»Wenn du mich betrügst, werde ich dich vernichten! Ich kann dich zermalmen.«
»Dann bring es doch hinter dich!«
Sie spürte, dass sie ihn immer mehr reizte, je mehr sie sich ihm widersetzte, aber sie konnte nicht anders. Jetzt war sie genauso zornig wie er. Außer sich vor Wut schrie sie ihn an.
»Hol dir doch dein Depot in der Manufaktur von Brügge zurück, hol dir deine Wechsel wieder, zieh’ deine Aufträge zurück, nimm deine Versprechen, deine Zärtlichkeiten und deine verführerischen Worte zurück. Hol dir alles zurück! Ich will es nicht mehr.«
Die tüchtige Dienerin von Sire Van de Veere wollte sich wohl vergewissern, ob er tatsächlich keinen Wunsch hatte, und steckte den Kopf zur Tür herein. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr Herr laut herumschrie, und wollte nach dem Rechten sehen. Alessandro sprang auf, packte sie am Arm und warf sie aus dem Zimmer.
»Ich sagte, ich will nicht gestört werden. Hast du mich jetzt verstanden? Wenn du noch einmal kommst, setze ich dich auf die Straße!«
Er ging wieder zu Alix, die noch immer am Fenster stand, und stieß sie wieder auf das Sofa, wo er sie diesmal festhielt, damit sie nicht wieder vor ihm weglief.
»Was bedeutet dir dieser Mann? Los jetzt, rede!«
Wieder wollte sie sich losmachen, aber er ließ ihr keine Chance.
»Rede!«
»Dieser Mann ist mein Kompagnon, wie ich dir bereits sagte. Er war der treue Gehilfe von Jacquou und mir. Und er hat eine Freundin von mir geheiratet, Florine, die bei der letzten Pest gestorben ist, fast zur gleichen Zeit wie mein Mann. Auf einmal waren wir beide verwitwet.«
»Und habt euch gegenseitig getröstet!«
»Nein, das stimmt nicht!«, rief Alix mit einer abwehrenden Geste. Aber er griff nach ihrer Hand und zerquetschte sie fast. Sie schrie auf vor Schmerz.
»Weiter!«
»Was nützt das schon, wenn du mir doch nicht glaubst?«
»Rede weiter!«
»Florine hatte einen Sohn zur Welt gebracht, kurz bevor sie starb. Mathias war genauso allein, verlassen und verzweifelt wie ich. Ich habe das Kind zu mir genommen und es aufgezogen. Ich liebe ihn wie mein eigenes Kind, vor allem auch weil ich meine beiden Söhne verloren habe.«
Einen kurzen Moment lang blickten Van de Veeres Augen etwas sanfter, doch gleich kehrte die Kälte zurück.
»Und weiter?«
Mit beiden Händen hielt er ihren Oberkörper umklammert, damit sie nicht aufstehen konnte.
»Mehr ist dazu nicht zu sagen. Wir haben zusammen gearbeitet, und er war überzeugt, dass ich ihm eines Tages gehören würde. Aber ich liebe ihn wie einen Bruder oder einen guten Freund, mehr nicht.«
Sie merkte, dass er vollkommen die Beherrschung verloren hatte. Alessandro war nicht mehr er selbst. Er begann sie auszuziehen. Zuerst
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