Die Tränen der Vila
alle drei!“
Man ergriff Hartmann, Lana und mich, fesselte uns die Hände vor dem Leib und band uns in sitzender Haltung rücklings an einen Baum, wobei ein einziger Strick uns allen über Brust und Oberarme lief. Auf diese Weise fixiert, blickten wir in verschiedene Richtungen und konnten einander nicht ansehen.
„Was tun sie?“, fragte Hartmann, der mit dem Gesicht zum Wald angebunden war und das Treiben im Lager nicht beobachten konnte.
„Sie räumen die Leichen fort“, sagte ich.
Tatsächlich hatten die Dänen alle erschlagenen Wenden auf einen Haufen am Bachufer geworfen. Der Anblick war grauenvoll: ein Berg aus toten Körpern, zerschlagenen Schädeln und verdrehten Gliedmaßen, ohne Sonderung von Alter und Geschlecht aufeinandergetürmt. Zugleich hatten die siegreichen Krieger sich der Tiere bemächtigt. Kühe und Ochsen wurden angebunden, denn sicher beabsichtigte man, sie mitzunehmen; Schweine und Ziegen hingegen wurden an Ort und Stelle geschlachtet. Die Ställe wurden niedergerissen, und das Holz schichtete man zu Stößen, um Lagerfeuer zu entfachen. Auch mehrere Fässer mit Honigmet waren erbeutet worden, und so machten sich die Männer ans Zechen. Bald sangen und grölten sie ausgelassen, und sogar die berittenen Edlen, darunter der Fürst von Jütland, schlossen sich ihnen an.
Der Einzige, der sich offenbar nicht über die reiche Beute zu freuen vermochte, war der breitschultrige Krieger namens Erik. Er saß ganz in unserer Nähe bei einer Gruppe seiner Männer, deren respektvolle Haltung bezeugte, dass er kein einfacher Soldat, sondern vermutlich ein Hauptmann war. Jedenfalls erhielt er von allen die größte Ration Met, ohne dass dies seine Laune zu bessern schien. Immer wieder starrte er hasserfüllt zu uns herüber, und als er sich schließlich – schon recht angetrunken – erhob und herübergeschlurft kam, befürchtete ich das Schlimmste.
Kurz blieb er vor Hartmann stehen, sah auf ihn herab und spuckte ihm schließlich vor die Füße. Dann trat er zu mir, und ich senkte den Kopf, um ihn nicht etwa durch herausfordernde Blicke zu reizen. Dies hatte leider zur Folge, dass ich den Faustschlag nicht kommen sah, der mich überraschend am Kinn traf. Stöhnend wand ich mich in meinen Fesseln, während Erik weiterging und sich Lana näherte. Lange stand er da und musterte sie von Kopf bis Fuß, mit leicht geöffneten Lippen und schwerem Atem, während seine Augen seltsam schimmerten – vielleicht vom Metgenuss, vielleicht von einer Regung des Begehrens. Dieser Blick alarmierte mich mehr als sein rüdes Betragen. Offenbar ging sein Interesse an Lana über den flüchtigen Drang des gewohnheitsmäßigen Frauenschänders hinaus.
Glücklicherweise wurde Eriks Tun soeben von Knut bemerkt, der mit seinen Begleitern am Bachufer saß.
„Heda, Erik!“, rief er herüber. „Lass die Gefangenen in Ruhe!“
Der vierschrötige Krieger verzog grollend den Mund, gehorchte jedoch widerwillig und ging zu seinen Leuten zurück – nicht ohne mir bei dieser Gelegenheit noch einmal kraftvoll auf den Fuß zu treten.
„Alles in Ordnung?“, fragte Hartmann, als er verschwunden war.
„Es ist schon gut“, stieß ich gepresst hervor, da mir der Fuß nun ebenso schmerzte wie der Kiefer.
„Wer sind diese Leute?“, fragte plötzlich Lana, die seit dem Überfall kein Wort mehr gesprochen hatte. „Gehören sie zu euch?“
Ich zögerte mit der Antwort, denn obwohl ich hätte bejahen müssen, fühlte ich keinerlei Verbundenheit mit dieser wilden Kriegerhorde.
„Was sagt sie?“, fragte Hartmann, der kein Wendisch verstand, und ich übersetzte ihm die Frage.
„Sie müssen zu dem dänischen Heer gehören, mit dem unser Herzog sich verabredet hat“, sagte Hartmann schließlich. „Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. Es war geplant, dass sie an der Küste landen und zur Unterstützung der Belagerer nach Süden vorstoßen sollten. Aber der Herzog war sich nicht sicher, wann sie kommen würden – nicht einmal, ob sie überhaupt kämen.“
„Warum eigentlich?“, fragte ich.
„Weil die Dänen untereinander zerstritten sind. Seit dem Tod des früheren Königs streiten sich zwei Vettern um die Herrschaft über Dänemark: Sven von Seeland und Knut von Jütland, den wir vorhin kennengelernt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Knut hier wäre, wenn er befürchten müsste, dass sein Rivale während seiner Abwesenheit die Herrschaft an sich reißt. Daher nehme ich an, dass sich die beiden vorläufig
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