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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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nicht zu den Dingen kommen ließ, die mir am wichtigsten waren.
    „Wie oft?“
    „Ich habe nicht mitgezählt, Vater“, sagte ich ratlos. „Ist denn das wichtig?“
    „Von größter Wichtigkeit! Vor Gott ist die böse Absicht gleich viel wie die böse Tat, weshalb der Erlöser gesprochen hat: Wer eine Frau auch nur begehrlich ansieht, der bricht die Ehe mit ihr. Daher frage ich dich noch einmal –“
    „Ich habe bei Räubern gelebt!“, platzte ich heraus, da es mir unerträglich wurde, mich mit Belanglosigkeiten aufzuhalten. „Sie nahmen mich gefangen, und ich musste Reisende zu ihnen locken, damit sie sie ausplündern konnten!“
    Der Priester sah mich mit großen Augen an.
    „Ich bin bei ihnen geblieben“, gestand ich endlich, „und habe nach einiger Zeit freiwillig an ihren Taten teilgenommen – mehrere Jahre lang.“
    Wir schwiegen eine Weile, und ich senkte den Blick.
    „Hast du gemordet?“, fragte der Priester schließlich.
    „Nein, Vater.“
    „Hast du selbst Hand an die Unglücklichen gelegt, die von jenen Gesetzlosen beraubt wurden?“
    „Nein, Vater.“
    „Hast du Anteil an dem Raubgut genossen, sei es an Speisen, Kleidung, Geld oder anderen Gütern?“
    „Ja, Vater“, flüsterte ich zerknirscht.
    „Deine Buße sei, ein Jahr lang kein Fleisch zu essen, weder Wein noch Milch zu trinken, das Büßerhemd zu tragen und eine Pilgerfahrt ans Grab des heiligen Apostels Petrus in Rom zu unternehmen, wobei du weder reiten noch auf einem Wagen fahren darfst.“
    Erstaunt blickte ich zu ihm auf, keineswegs erschrocken über die Härte der Strafe, sondern vielmehr über seine kühle Redeweise. Ich hatte gehofft, endlich jemandem meine Geschichte erzählen zu können und wahre Vergebung zu erlangen. Nun jedoch kam es mir eher vor, als hätte ein Händler auf dem Markt mir den Preis für ein Pfund Schweinefleisch genannt.
    „Ist es wahr“, fragte ich zögerlich, „dass die Buße mir erlassen wird, wenn ich beim Kreuzzug gegen die Wenden mitziehe?“
    Der Priester zog die Augenbrauen hoch und nickte. „So hat unser Herr, der Heilige Vater, es verfügt.“
    „Dann gelobe ich, am Kreuzzug teilzunehmen“, sagte ich feierlich.
    „Gelobst du es bei Gott, seinem Sohn Jesus Christus und der Heiligen Jungfrau?“
    „Ja, ich gelobe es. Könnt Ihr mich nun lossprechen?“
    Der Priester besann sich einen Moment, dann nickte er erneut, sprach eine Formel und schlug das Kreuz.
    „Geh mit Gott“, sagte er, und als ich nichts zu erwidern wusste – nicht einmal ein Dankeswort –, wandte er sich um, schritt zum Haus zurück und ließ mich im kalten Mondlicht stehen.
    Als ich wieder in die Stadt hinunterging und die Herberge aufsuchte, hatte meine gehobene Stimmung einer eigentümlichen Enttäuschung Platz gemacht. Hartmann erwartete mich beim Stall – offenbar hatte sein Geschäft viel weniger Zeit in Anspruch genommen als das meine.
    „Ich dachte schon, ich müsste ohne dich losziehen“, sagte er, als er mich kommen sah. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ein so frommer Bursche wie du so viel zu beichten hat.“
    Ich bat um Entschuldigung für die Verspätung. Hartmann jedoch ging ohne weiteres darüber hinweg, griff nach dem Zügel des Pferdes und erneuerte seinen Entschluss, die Nacht nicht in einer Herberge, sondern draußen vor der Stadt zu verbringen. So zogen wir zum Tor, das bereits geschlossen war, und der Ritter musste die Wachleute auf dem Wall anrufen, damit sie uns hinausließen.
    Da es zu spät war, um an die Tür irgendeiner Bauernhütte zu klopfen, suchten wir ein kleines Wäldchen unweit des Flusses auf und betteten uns ins Gras. Die Nacht war mild, und der Mond schien hell, so dass wir darauf verzichteten, ein Feuer zu entzünden. Vor dem Schlafen taten wir uns erneut an unserer Verpflegung gütlich – und diesmal dachte ich an die Mahnung des Priesters und sprach leise das Dankgebet über dem Brot.
    Hartmann schmunzelte. „Dank sei Gott dem Herrn“, stimmte er ein, nachdem ich geendigt hatte. „Und Dank sei dem Grafen von Flandern, von dessen Geld wir dieses Brot bezahlt haben.“
    Ich schwieg gekränkt, denn ich empfand seine Bemerkung als Hohn auf meine frommen Bemühungen. Hartmann schien es nicht zu bemerken, aß mit Appetit und rollte schließlich seine Schlafdecke aus, um sich auf den Rücken zu legen und zum Nachthimmel aufzublicken. Er sprach kein Wort mehr, wirkte jedoch vollkommen zufrieden, und ich konnte nicht umhin, seine Stimmung dem Aufenthalt im

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