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Die Traenen Des Drachen

Titel: Die Traenen Des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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könne er oben am Nachthimmel etwas erkennen.
    »Wenn das Menschenherz zum letzten Mal schlägt, werden die Flügel aus deinen Armen brechen und dich in das Reich der Vögel tragen. Das ist das Schicksal, für das du geboren bist, Karain Krallenfinger.«
    Karains Arm ruhte auf seinem Schenkel. Der Rabe hüpfte auf die Kante des Wagens hinüber. Dort wippte er nickend ein paar Mal mit dem Schwanz, ehe er ihn wieder ansah.
    »Du bist jetzt mein Bote. Du musst meinem Volk sagen, wenn die Zeit reif ist. Denn ich will dich warnen.«
    »Warnen?« Karain neigte den Kopf zur Seite. Wie ein Vogel, dachte er und richtete sich auf.
    Der Rabe lachte. Es war ein heiseres, raues Lachen. Dann entfaltete er die Flügel, wie um sie ihm zu zeigen.
    »Du bist mein Bild, und nur du kannst meine Worte deuten.«
    »Du hast Recht«, sagte Karain. Er fasste an seinen Hals und spürte, wie sich seine Kehle um die Worte legte, die er sagte, als ob er hustete.
    »Ich werde dir dreimal helfen. Das erste Mal geschah das, als deine Brüder dich aus dem Feuer flogen.«
    »Meine Brüder? Aber was…« Karain hob die Stimme, doch da spürte er, dass Kirgit ihren Kopf bewegte.
    »Ich versteh nicht, was du meinst«, flüsterte er. »Ich verstehe nicht… Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Der Rabe breitete die Flügel aus und hüpfte auf sein Knie.
    »Tu, was du fühlst. Bis jetzt hast du viele gute Dinge getan. Mach so weiter. Fürs Erste ist es wichtig, dass du die Waldgeister begleitest, damit der Gamle wieder gesund wird.«
    »Der Gamle! Woher weißt du das?«
    Der Rabe sprang hoch und krallte sich an seinem Arm fest.
    »Wir wissen.« Er legte seinen Kopf zur Seite und starrte ihn mit pechschwarzen Augen an. »Er hat uns gerufen, als er spürte, dass ihr in Gefahr wart. Er hat uns mit dem Wind nach Süden geschickt. Wir haben seine Worte an alle gefiederten Wesen weitergegeben, denn keiner von uns würde überleben, wenn ihr die Wurzel nicht findet.«
    »Es wird keinen Frühling geben, ehe der Gamle ihn nicht herbeiruft«, sagte Karain. »Der Winter wird auf dem Land liegen, bis Gamle die Rote Runde Wurzel bekommt.«
    Der Rabe schrie. Er streckte die Flügel aus und segelte durch die Luft, kreiste eine Runde über dem Wagen und landete dann wieder auf seiner Hand.
    »Nein!« Er öffnete seinen Schnabel und fauchte ihn an. »Nein! Das stimmt nicht! Das Gesetz der Jahreszeiten ist noch strenger. Hat der Gamle das Loke nicht gesagt? Wusste er es denn selbst nicht, der Häuptling der Waldgeister? Er wusste es doch, als er nach uns gerufen hat.«
    Der Rabe kletterte auf seine Schulter.
    »Vier Monate…«, flüsterte er ihm ins Ohr. » Volom-Kars Primstab hat vier Monate. Bekommt der Gamle seine Wurzel nicht, ehe der vierte Monat verstreicht, wird der Frühling nie mehr kommen und der ewige Winter die Welt erobern.«
    Der Rabe flog auf und kreiste in die Nacht hinauf.
    »Ewiger Schnee! Alle werden sterben!«, schrie er.
    Karain reckte seinen Hals nach oben.
    »Warte!«, rief er. »Hast du einen Namen? Kann ich dich rufen?«
    Der Rabe schwebte zu ihm nach unten.
    »Ich bin Kragg. Dein Zwillingsbruder.«
    Mit diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit.
     
    Karain flog. Er schwamm durch die Luft. Unter ihm waren die Wolken; er berührte sie bei jedem Schlag mit den Flügelspitzen. Seine Rückenfedern kratzten am Himmel. Sie waren nass. Der Himmel war ein Meer. Deshalb ist er blau, dachte er. Er wollte es laut hinausschreien, doch wer sollte ihn hier oben hören?
    Karain legte die Flügel an und schoss durch die Wolken nach unten. Während das Grau vorbeisauste, spürte er, wie kalt es war. Eis legte sich über seinen Schnabel. Dann war er unter den Wolken.
    Schnee bedeckte alles. Nicht ein Baum war zu sehen, kein Tier und kein Vogel. Nur eine unendliche, leicht wellige Schneefläche. Karain ließ sich von seinen Schwingen zu einer Klippe tragen und setzte sich im heulenden Wind auf sie. War das eine Welt, die er kannte? Er hob den Kopf zum Himmel, zum Schnee, der herabfiel und immer weiter fallen würde. Und er schrie seine Angst heraus. Allein.

Die Reise zur Felsenburg
     
    W ach auf!«
    Karain zuckte zusammen. Eine kleine Hand zerrte an seinem Bein.
    »Wir müssen weiter!«
    Er öffnete die Augen. Schnee rieselte über seine Lider, als er den Kopf hob. Die Waldgeister standen unten an seinen Füßen auf dem Boden. Loke lächelte.
    »So ein Schneegestöber!« Er schaute sich um. »Ein Fuß hoch in einer einzigen Nacht, und es sieht nicht so aus,

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