Die Tränen des Herren (German Edition)
erstarrt blickte Jocelin auf die hohe Gestalt des Mannes, der an der Wand aufgerichtet hatte. Der Mann war einäugig, und auch das verbliebene Auge schien blind. Eine breite Narbe zog sich schräg über die Wange bis zur Schläfe. Jocelin hatte nur einmal eine solche Verletzung gesehen. Damals in den letzten Stunden des Kampfes um Akkon, als die Sarazenen die Mauern überwanden und einer von ihnen seinen Säbel in das Gesicht eines Ordensbruders schlug!
„Arnaud?” fragte er fast tonlos und ging auf den Gefangenen zu. „Arnaud!”
Als wolle er prüfen, ob er ein Traumbild vor sich habe, drückte er seinen alten Pflegevater an sich.
„Arnaud, wie kommt Ihr hierher? Ich glaubte, Ihr seid auf Zypern!”
„Ich bin erst dieses Jahr mit Meister Jacques gekommen.” Der alte Templer streckte die Hand aus und berührte das Gesicht des Jüngeren. Jocelin… Er hatte nicht geglaubt, ihm je wieder zu begegnen… War das ein gutes Zeichen in dieser Stunde der Not?
Da erst bemerkte Jocelin die blutige Tunika seines Ordensbruders. „Ihr seid verletzt!”
„Ah, es ist nicht so schlimm. Der Heiligen Jungfrau sei Dank, die Folterknechte wussten nicht, dass ich der Adjutant des Meisters bin.”
Der Servient griff Jocelins Arm. „Messire, es sind alle frei.”
Er nickte und wandte sich um. Sie mussten sich beeilen.
„Folgt mir, so leise wie möglich! Stützt euch gegenseitig, damit niemand stolpert!“
Sie erreichten ungehindert den Kirchenraum, von da aus über die Treppe das Dormitorium. Im Kapitelsaal trafen sie Louis. Erstauntes Raunen kam auf, als die Brüder ihn erkannten.
Er hatte nur zwei Männer bei sich. Sein linker Ärmel war zerfetzt, und an seinem Schwert klebte Blut.
„Abtrünnige“, murmelte er. „Alle drei! Sie wollten die Söldner alarmieren! Ich musste sie töten!“ Das Entsetzen über die eigene Tat klang noch in seiner Stimme nach. Jocelin biss die Zähne zusammen. „Gott sei uns gnädig! Schnell jetzt!“
Unter Louis‘ Führung durchquerten die Flüchtlinge den Kreuzgang, unbemerkt von den Wachen auf dem Wehrgang. In den Stallungen war es still. Fast zu still. Ob Guy etwas geschehen war? Doch dann würde im Lager der Söldner größere Unruhe herrschen…
Er schlüpfte durch die Tür, sah sich um. Unvermutet sagte eine Stimme neben ihm: „Sire?“ Lautlos hatte Guy sich an seine Seite geschlichen.
„Sind die Pferde bereit?“ fragte Louis und presste die Hand auf sein vor Schreck wie wild schlagendes Herz.
„Ja.“
„Dann los!“
Mit einem letzten Blick überzeugte sich Jocelin, dass jeder leidlich auf einem Pferd saß. Dann gab er das Zeichen. Aufgescheucht preschten den Flüchtlingen auch die restlichen Pferde des Stalles hinterher. Im nächsten Augenblick pfiffen die ersten Pfeile vom Wehrgang und ein Wächter blies das Signalhorn. Einige Bewaffnete ergriffen die Flucht vor den Hufen der Pferde, hektische Befehle schreiend.
Doch die ersten Templer waren durch das Tor in der Nacht verschwunden. Jocelin blieb an der Seite des Tores zurück, bereit, sich den heraneilenden gräflichen Männern entgegenzustellen. Erneut spannten die Schützen auf den Mauern ihre Armbrüste. Ein halbes Dutzend Pfeile fuhren neben Jocelin in den Boden. Doch sie galten nicht ihm. Das Opfer hätte Ranulf sein sollen, der gerade von der Treppe des Wehrgangs gesprungen war. Der Ordensritter kam ihm zu Hilfe und griff ihn im vollen Galopp auf.
„Das Tor!“ keuchte der Ingenieur, sich an Jocelin festklammernd. „Das Tor! Beeilt Euch, Sire!“
Erst jetzt erkannte Jocelin, dass das Fallgatter bereits halb heruntergelassen war. Im letzten Moment entkamen sie. Hinter ihnen bohrten sich die eisernen Spitzen in die Erde.
Esquieu de Floyran lag halbnackt auf den Samtkissen, den Kopf an der Schulter einer üppigen Hure.
„Ihr seid so dunkel“, sagte sie und rieb verwundert über seine Haut.
„Den Weibern, die ich bisher hatte, gefiel es“, gab Floyran zurück. „Schwarz wie der Teufel, he!“ Er lachte und die Frau zuckte zusammen.
„Hast du Angst vor mir? Mein Vater sagte immer, meine Mutter sei eine Teufelin gewesen, eine schwarze sarazenische Hexe...”
„Seid Ihr ein Heide?”
„Ich? Ich glaube an gar nichts! Außer an mich selbst! Und ich muss sagen, dieser Glaube hat mich bisher weiter gebracht…“ Er packte sie, drückte ihren weichen, weißen Körper in die Kissen. „….als alles Gelaber der Priester…“
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
„Sire Esquieu, der
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