Die Tränen des Herren (German Edition)
gehören!“
Die Szenerie von der Tribüne aus beobachtend, spuckte Esquieu de Floyran aus und verließ die Zuschauerränge.
Yvo de Montfort wischte die schmutzigen Hände an seiner Tunika ab, die bereits die Spuren der vergangenen Rauferei trug, und sah sich abenteuerlustig um. Die heutigen Turnierkämpfe hatten gerade geendet. Aus dem Lager klang das unvermeidliche Stöhnen und Schreien, dass die Arbeit der Wundärzte begleitete. An der Umzäunung vor den Zelten entdeckte Yvo etwas Neues, Reizvolles: einen einsamen alten Bettler in einer Mönchskutte.
„Du, lass ihn, er ist blind!“ meinte der rothaarige Bursche neben dem jungen Grafen. „Komm, wir gehen zurück ins Lager! Vielleicht können wir einem der Ritter bei den Pferden helfen!“
„Ach was! Langweilig! Der Kerl hier wird auf seinem einen Auge schärfer sehen als der Jagdfalke meiner Mutter, dass wette ich! Ich kenn‘ diese Ratten doch! Die stellen sich blind, um mehr Almosen einzuheimsen! Oder er ist gar unterwegs, um da was zu klauen, in den Zelten! Gleich wirst du es sehen, eh!“
Yvo rannte auf den Bettler zu, vollführte eine rasche Bewegung vor dessen Gesicht. Bruder Arnaud spürte den Luftzug und streckte den Arm aus.
„He, willst du mich fangen?“ lachte Yvo. „Versuch‘ es doch!“
Der Schmerz der Erniedrigung ließ Arnaud zittern. Er hatte geglaubt, in den Jahrzehnten im Dienst des Ordens Demut erlernt zu haben, aber diese Schmach überstieg fast seine Kraft. Er war ein Ritter, aus einem der angesehensten Geschlechter Frankreichs, Adjutant des Meisters der Templer!
Yvo de Montfort war so in sein grausames Vergnügen vertieft, dass er seine Mutter nicht kommen hörte. Sein Kamerad verdrückte sich eilig, als er das gräfliche Gefolge sah. Ghislaine packte ihren Sohn am Arm.
„Was tust du?!”
„Ich... mache ein bisschen... Spaß.“
“Spaß?!“ wiederholte Ghislaine und versetzte ihrem Sohn eine Ohrfeige.
„Weißt du nicht, dass uns in jedem Armen der Herr Christus selbst begegnet?! - Geh‘ in den Wagen!“
Yvo warf einen Blick auf sein Reitpferd und murrte: „Ich bin doch kein Kind mehr!“
„Aber du benimmst dich wie ein Milchkind ohne Verstand! Geh‘! Oder ich bringe dich morgen in die Abtei von Villefort, das schwöre ich!!!”
Unter dem Grinsen der gräflichen Soldaten trottete Yvo zum Wagen. Ghislaine seufzte. Großer Gott, wie sehr fehlte ihrem Sohn die starke Hand des Vaters! Sie wandte sich wieder dem Bettler zu und erkannte jetzt in seiner Gestalt den seltsamen Begleiter des Ritters aus Judäa. „Verzeih meinem Sohn!“ bat sie und legte ein glänzendes Geldstück in Arnauds Hand. Dann kehrte sie zu ihrem Gefolge zurück.
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Esquieu de Floyran hielt sich abseits von dem Treiben im Festsaal des königlichen Palais. Er war gekränkt, dass Gräfin Ghislaine de Montfort ihn an diesem Abend nicht die mindeste Beachtung geschenkt hatte. Aber noch weit mehr erboste ihn der Verlust von fünfzig Goldbyzantinern. Mit welcher Freude sie dieses gierige Weib in Empfang genommen hatte! Eigentlich wurde es mehr als Zeit, dass ihr jemand diese Flausen der Arroganz austrieb und sie auf den Platz verwies, der einer Frau zustand!
Er kippte einen Becher Wein hinunter. Wer hätte auch gedacht, dass der magere Bursche aus Outremer den Grafen von Baux besiegen würde! ‚ Von Judäa‘, ‚ Jocelin von Judäa‘, was war das für eine Seigneurie? Und wieso ritt er nicht unter seinem Familienwappen? Was sollte der Quatsch mit dem ‚Maria ist meine Mutter’? Entweder der Mann war ein Idiot oder - Irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Und das, genau das würde er herausfinden, schon um die Freude der Gräfin von Montfort über den Sieg dieses Kerls zu dämpfen! Er verließ die Festgesellschaft und das Palais über die nachtdunkle Rue de la Harpe und wandte sich in Richtung der Seine.
Dort lag das Palais “Aux Quinze Anges“, der Wohnsitz des neunzigjährigen Chronisten Jean de Joinville. Floyran ließ den Türklopfer solang gegen das Tor donnern, bis er schlurfende Schritte hörte. Der Diener Joinvilles, kaum jünger als sein Herr, überschüttete den Besucher mit einem Schwall der Entrüstung.
„Mach‘ auf! Ich komme im Namen der Heiligen Inquisition!“
Das kleine Fenster in der Mitte der Tür öffnete sich, und der Diener erging sich in einer erneuten empörten Rede, was denn die Inquisition mit einem so ehrwürdigen und rechtschaffenen Herrn wie Sire Jean zu tun habe, der den heiligen König Louis auf dem Kreuzzug
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