Die Tränen des Herren (German Edition)
begleitet hatte.
„Alter, hör auf zu quatschen und lass mich rein! Oder ich trete die Tür ein!“
Mit zitternden Händen schob der Diener jetzt die Riegel zurück und zog die Pforte auf. Selbst das dauerte Floyran noch zu lang und er half mit einem kräftigen Stoß nach, der den Bediensteten fast zu Fall brachte. Einen Moment später stand er in der großen, düsteren Eingangshalle des Palais. An den Wänden aufgereihte Schilde, Schwerter und Banner erzählten von der ritterlichen Vergangenheit seines Besitzers. Zwei riesige Leuchter mit dem Jerusalemkreuz verliehen dem Raum eine sakrale Atmosphäre. Und dann trat Jean de Joinville ein. Er stützte sich auf einen Stock, doch schien das mehr Gewohnheit als Notwendigkeit zu sein. Weißes Haar umrahmte sein Gesicht, das zerknittertem Pergament ähnelte. Von den durchscheinenden, knochigen Händen konnte man nicht glauben, dass sie jemals eine Waffe gehalten hatten. Doch trotz aller Zerbrechlichkeit lag eine gewisse Kraft in seiner Gestalt. Er setzte sich in einen der hohen Lehnstühle und sagte: “Es muss ein gewichtiger Grund sein, dass die Heilige Inquisition mich zu dieser Stunde zu sprechen wünscht, da man ja sogar mit der Verhaftung der Templer bis zum Morgen warten konnte!“
„Es ist in der Tat von Bedeutung, Sire“, begann Esquieu de Floyran, aber ein Klopfen von Joinvilles Stock unterbrach ihn.
„Wer seid Ihr? Ich spreche nicht gern mit Namenlosen!“
„Sire Esquieu de Floyran.
„Esquieu de Floyran“, wiederholte der alte Chronist und ließ keinen Zweifel, dass der Träger des Namens seiner Ansicht nach nicht gerade unter die Rechtschaffenden zu zählen sei. „Nun, sprecht!“
„Ihr kennt das Heilige Land, Sire. Ich möchte, dass Ihr mir etwas erzählt über eine Seigneurie von Judäa!“
Der folgende Morgen des Turniers war der Kunst der Bogenschützen gewidmet. Erst am Nachmittag setzte man die Zweikämpfe fort. Esquieu de Floyran hatte diesmal seinen Platz auf der Tribüne des Königs und seiner Vertrauten nicht eingenommen. Er lehnte an einem Pfosten der Umzäunung und verfolgte ungeduldig, wie vier Ritter gegeneinander antraten. Seine Gedanken fieberten in freudiger Erwartung. Er war im Besitz eines kostbaren Wissens!
„Jocelin von Judäa,” murmelte er vor sich hin und verzog die Lippen zu einem genüsslichen Lächeln. Laut Joinville waren die Herren von Judäa 1282 im Mannesstamm ausgestorben; der Rest ihrer Besitzungen, die nach den Landgewinnen der Sarazenen ohnehin kümmerlich waren, war zwischen zwei reichen Bürgern Akkons und dem Erzbischof von Tyrus aufgeteilt worden. Dieser Kerl mit seinem Marienbild auf dem Schild war ein Betrüger und Scharlatan, womöglich irgendein Knappe, ein Leibeigener, ein Waffenknecht, der seine Ausrüstung zusammen gestohlen hatte! Was für eine Genugtuung würde es sein, wenn er ihn vor den Augen der Gräfin bloßstellen konnte! Hmm… sie würde sicherlich wütend werden und zetern! Und wütend fand er sie besonders begehrenswert!
Wieder war der Ruf des Herolds vom Turnierplatz zu hören: „Sire Francis von Wells fordert Sire Jocelin von Judäa!“
Floyran verschwand eilig zwischen den Zelten.
Das schmucklose weiße Banner des Ritters aus Outremer flatterte am Rande des Lagers. Kein Zelt, nur eine geflickte Plane war dort aufgestellt. Floyran musterte die wenigen Habseligkeiten. Nichts Ungewöhnliches fiel ihm auf. Ein Ledersack zum Aufbewahren der Rüstung, wie ihn hunderte von Rittern benutzten... Essgeschirr aus Holz, eine Karaffe aus Ton… Alles wühlte er durch während der Jubel der Zuschauer ihm einen erneuten Sieg dieses ‚Mariensöhnchens’ verkündete. Nun, die Freude würde ihm schon noch vergehen!
Der letzte Tag des Turniers war angebrochen, der entscheidende Tag. Und ausgerechnet heute regnete es, der Boden war aufgeweicht und bei jedem Huftritt flogen Batzen feuchten Schlammes gegen die einstmals bunten Tücher der Begrenzung. Dem Eifer der Zuschauer tat das Wetter keinen sonderlichen Abbruch. Notfalls konnte man sich ja mit Wein aufwärmen! Nur noch vier Ritter waren übrig: Jorge de Fontcalda, ein Bretone, Charles de Valois und Jocelin. Die Wetten der Zuschauer schraubten sich in schwindelnde Höhen.
Der Bretone fiel vor der Lanze Valois‘. Die Spannung unter den Zuschauern war jetzt fast spürbar. Wer von den beiden verbliebenen Rittern würde die undankbare Aufgabe übernehmen und den Bruder des Königs fordern? Es war Jocelin Judäa. Ohne eine Regung zu zeigen
Weitere Kostenlose Bücher