Die Tränen des Herren (German Edition)
die Frage seines Nachfolgers. Für Enguerrand de Marigny gab es keinen Zweifel, dass ein Mann des Königs den Erzbischofsthron besteigen musste, zumal jetzt, da sich Papst Clemens in Avignon - auf Reichsgebiet - aufhielt und diese Freiheit ihn vielleicht zu unerwünschten Taten inspirierte! Der neue Erzbischof von Sens musste ein treuer Diener Frankreichs sein, dem an König Philipp mehr lag als an der Kirche, der sich nicht durch fromme Bedenken und allzu viel Mitleid mit den Templern behindern ließ!
Enguerrand de Marigny wusste um den Geeigneten. Er wendete den Blick zu einem milchgesichtigen Mann mit blondem Haarkranz. Marignys junger Bruder Philipp stand leicht vornüber gebeugt, die Hände mit dem Bischofsring über der Brust gefaltet. Man hätte seine Haltung als fromme Ergriffenheit deuten können. Doch Enguerrand bemerkte das begehrliche Lächeln auf den Lippen seines Bruders. Gewiss wanderten Philipps Gedanken in den gleichen Gefilden wie die seinen! Schon vor zwei Jahren hatte er ja Interesse am Thron des Erzbischofs von Sens bekundet. Nun war die Zeit reif...
Einer der Kleriker bekam einen Hustenanfall und der Finanzminister unterdrückte ein Seufzen. Wann bei allen Heiligen Gottes wurden die endlich fertig?!
----
I m Turnierhof des Louvre veranstalteten die beiden Knappen Enguerrand de Marignys und drei weitere Jungen ein ausgelassenes Kampfspiel. Yvo de Montfort trat aus dem Arkadengang, entschlossen, sich ihnen zuzugesellen. Aber beim Anblick der hölzernen Übungspuppe verfinsterte sich sein Gesicht. Man hatte ihr einen Templermantel umgehangen. Mit einem wilden Kriegsschrei stieß gerade einer von Marignys Knappen seine Lanze durch das rote Ordenskreuz. Yvo stürmte auf den Jungen zu, riss ihm die Waffe aus den Händen. Im nächsten Moment wälzten sich die beiden im Kampf durch den Sand.
„Lass mich los! Was hab’ ich dir denn getan?”
Yvo sah, dass seinem Gegner die Tränen über die Wangen liefen und ließ von ihm ab. Schniefend stand der Junge auf. Seine Kameraden nahmen ihn in die Mitte. Verhaltene Drohungen gegen Yvo murmelnd, zogen sie ab. Sie wussten, dass es nicht ratsam war, sich mit dem jungen Grafen von Montfort anzulegen. Er war größer und stärker und überdies königlicher Knappe. Yvo wartete, bis er allein im Turnierhof war. Dann zog er den Ordensmantel von der Puppe und floh wie ein Dieb. Gedeckt von hohen Fässern in einem Lagerraum breitete er sein Beutestück aus. Einem plötzlichen Einfall folgend legte er den Mantel um seine Schultern. Lange stand er so, verliebt in seinen eigenen Traum. Da tauchten einige Mägde auf. Hastig wickelte er den Mantel zusammen und verschwand über eine Treppe ins obere Stockwerk.
In diesem Teil des Louvre war er noch nie gewesen. Während er sich umsah, drang durch einen dicken Samtvorhang nur wenige Schritt von ihm entfernt eine leise Stimme:
„...einem der Notare abgenommen...”
Von Neugier getrieben schlich Yvo näher. Er hörte Pergament rascheln.
„...sage Euch, ...darf auf gar keinen Fall gehört werden!”
„...unabhängige Kommission!”
Die weiteren Worte entgingen Yvo, weil der Sprecher auf - und abschritt.
„...dulde es nicht!” vernahm er dann wieder, und nun erkannte er König Philipps Stimme. “Tut, was Ihr für richtig haltet, Sire Guillaume! Kein Templer darf… aussagen!”
Als Yvo klar wurde, von welcher Unterhaltung er Zeuge war, fühlte er Angst in sich hinauf kriechen. Er fuhr herum. Doch nein, niemand hatte ihn beim Lauschen beobachtet! Mit zitternden Knien wankte er in den Turnierhof zurück. Ihm fiel auf, dass der Ordensmantel noch immer in seiner Hand lag. Kurzerhand stopfte er ihn hinter die aufgeschichteten Strohballen. Er musste nach Fontainebleau! Sire Jocelin musste unbedingt erfahren, was er gehört hatte! Mit diesen Gedanken rannte Yvo zu den Stallungen. Die Pferdeknechte hielten ihn für ein verspätetes Mitglied der kurz zuvor aufgebrochenen Jagdgesellschaft des Thronfolgers und stellten ihm bereitwillig ein schnelles Pferd zur Verfügung. Im Galopp ritt der Junge die Straße hinab. Vor den Werkstätten und Ateliers auf der Brücke drängten sich die Menschen, und er war gezwungen, sein Pferd zu zügeln. Irgendwo hatte offenbar jemand was gestohlen, denn ein kreischendes „Haltet den Dieb, haltet den Dieb!“ gellte durch die Menge.
Ein dürrer Halbwüchsiger mit einem Brot unter dem Arm hetzte gerade an ihm vorbei, stieß gegen einen Mann im Seidenwams und war auch schon in der
Weitere Kostenlose Bücher