Die Tränen des Herren (German Edition)
beschämt festgestellt, dass er wenig Verlangen nach Gesellschaft oder Gesprächen hatte, und noch viel weniger, die trostlosen Erinnerungen aus Spanien zu teilen. Aber als die anderen sich schlafen gelegt hatten, fand er die lang ersehnte Ruhe nicht und verließ die Höhle. Außerhalb des bergenden Talkessels an dem dort entlang fließenden Bach entledigte er sich seiner Kleider und begann sich beinahe zornig mit dem eiskalten Wasser zu schrubben. Wenigstens kurze Zeit hatten seine Sinne damit zu tun, die Kälte zu bekämpfen und waren taub für andere finstere Gedanken.
Gerade wurde es hell. Als Jocelin zurück ans Ufer stieg, merkte er, dass Arnaud ebenfalls auf dem Weg zum Bach war. Nichts besonderes, immerhin war dieser Ort der Waschplatz für alle Brüder hier, dennoch fühlte er sich in diesem Moment unangenehm verfolgt. Zumal sein Pflegevater zu wissen schien, dass er ihn hier finden würde...
„Jocelin, ich möchte dich etwas fragen.“
„Ja. Sprecht!“ Es gelang ihm nicht, den mürrischen Klang ganz aus seiner Stimme zu verbannen. Mit einem heftigen Ruck zog er den abgelegten Bußgürtel wieder um die Hüften und presste die Zähne zusammen, um dem Schmerz zu begegnen.
„Es geht um die Gräfin von Montfort.“
Noch ein Ruck. Jocelin sah einen schmalen Blutfaden unter dem Gürtel hervor rinnen. „Was ist mit ihr? Wie Bruder Jean berichtete, soll sie uns sehr geholfen haben.“
„Das hat sie. Und - sie hat bei jedem Besuch nach dir gefragt. Was ...“ Arnauds Stimme zitterte leicht. „Was ist zwischen dir und dieser Frau?“
„Nichts!“ Obwohl sein Ordensbruder blind war, hatte Jocelin plötzlich das Gefühl, er würde in ihn schauen wie er selbst auf den Grund des zu seinen Füßen fließenden Baches.
„Nichts!“ wiederholte er umso zorniger und streifte die Tunika über.
„Du bist dir sicher?“
„Was glaubt Ihr? Ich habe sie nicht angefasst!“
„Die Unzucht beginnt nicht in unserem Leib, sondern in unserem Geist. Das weißt du. Ein Gedanke genügt und der Teufel hat eine Bresche in die Verteidigung geschlagen.“
„Macht Euch keine Sorgen! Ich habe nichts getan und ich habe nicht die Absicht!“
„Ich will nur... Jocelin, ich will nur, dass dir dieser besondere Schmerz erspart bleibt. Achte genau auf die Fallstricke des Teufels! Sei wachsam!“
Vorsichtig hatte der Reiter sein Pferd auf dem schmalen Pfad zwischen den Felsen hindurch in den Kessel gelenkt. Er trug ein schwarzes, weich fallendes Gewand wie die Scholaren des Pariser Kollegs. Erst als er aus dem Sattel stieg, zeichneten sich die Körperformen einer Frau darunter ab.
„Gräfin Ghislaine!” rief Bruder Jean. „Wir hatten nicht mehr mit Euch gerechnet diese Woche. Es gibt –“
Er wollte ihr berichten, dass Jocelin zurückgekommen sei, doch sie hatte seine Gestalt schon selbst erspäht und war an seiner Seite, ehe Jean sie zurückhalten konnte. „Gott hat meine Gebete erhört, Jocelin!”
„Ich hörte, Ihr habt uns sehr geholfen, Madame“, murmelte er, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Ich habe nichts, womit ich Euch danken kann.”
„Ich bin sicher, der Herr wird mir alles vergelten!”
Jetzt fuhr er zu ihr herum, beherrschte sich aber, ihr ins Gesicht zu schleudern, was im auf der Zunge lag. Er hatte ihr Antlitz gesehen in jedem Marienbild, vor dem er in Spanien auf den Knien gelegen hatte. Aber – die Erinnerung schien ihn getrogen zu haben. Sie war schöner als all diese Statuen und Bilder, und ihre Augen trauriger…
„Sagt, wie geht es Yvo?” fragte er, wieder in die Flammen starrend. ‚Wie geht es Euch?‘ hatte er eigentlich fragen gewollt, die Frage, die immerwährend in den letzten Monaten in ihm gebrannt hatte, aber er brachte es nicht über sich.
„Er ist jetzt als Knappe am Königshof“, antwortete Ghislaine.
„Gut. Sorgt dafür, dass er uns und sein kleines Abenteuer vor einem Jahr vergisst!“
Die Neuigkeiten, wegen der Ghislaine gekommen war, waren wenig ermutigend. Der Erzbischof von Sens liege im Sterben, erzählte sie, und seine Nachfolge sei schon jetzt das wichtigste Thema bei Hofe. König Philipp wolle versuchen, einen ihm genehmen Kandidaten durchzubringen, denn im Metropolitanbezirk Sens lag Paris, und in Paris hatte sich die Große Kommission gegen den Templerorden konstituiert. Von Erzbischof Gregor von Rouen, der nun ihr Vorsitzender war, hatte sie noch keine neue Nachricht erhalten. Ob Entlastungszeugen angehört werden würden, war nach wie vor unklar.
Als der
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