Die Tränen des Herren (German Edition)
Abend näher rückte machte sich Ghislaine auf den Rückweg. Sie wollte nicht noch bei Dunkelheit unterwegs sein. Bruder Jean half ihr, das Pferd wieder zu satteln. Sie blickte sich suchend nach Jocelin um, doch war er nirgends zu sehen.
„Bruder Jocelin…“ fragte sie, noch immer den Blick auf den halbdunklen Eingang der Höhle gerichtet. „Ist er so, seid er zurück ist aus Spanien?“
„Ja. Aber er spricht nicht darüber, was dort unten geschehen ist. Nur das Nötigste. Ansonsten brütet er vor sich hin oder übt Fechten. Aber... Madame... es sind wirklich schwere Zeiten, für uns alle.“ Jean suchte nach irgendetwas Aufmunterndem; er hatte das Gefühl, es diesen beiden Menschen, die er bisher als seine verlässlichsten und treuesten Freunde auf Erden betrachtete, schuldig zu sein. Doch ehe er noch etwas sagen konnte, klang Bruder Arnauds Stimme zu ihnen:
„Madame Ghislaine, ich halte es für besser, wenn ihr eure Besuche in den kommenden Wochen einschränkt oder...für eine Weile einstellt. Die neuen Nachrichten lassen mich befürchten, dass der König seine Suche nach unseren Unterstützern verdoppeln wird. Und wir können nicht riskieren, dass Ihr verhaftet werdet.“
„Wie Ihr wünscht.“ Sie blickte von dem alten Ordensbruder zu Jean de Saint-Florent, dessen Miene undeutbar blieb und fragte sich, ob es tatsächlich die Sorge um ihre Verhaftung war, die Arnaud zu diesen Worten veranlasste, oder ob er sie von Jocelin fernhalten wollte... Die ganzen vergangenen Wochen hatte er nie vom Risiko ihrer Ergreifung gesprochen, obwohl es immer bestanden hatte und alle sich der Gefahr bewusst waren. Sie hatte sie geteilt aus ihrem eigenen Wunsch heraus, und diesen Wunsch hatten die Brüder von Fontainebleau akzeptiert. Bis jetzt.
Diese Gedanken versetzten ihr einen Stich, aber dann nickte sie Jean noch einmal zu und lenkte ihr Pferd auf den Weg.
Jocelin war hinunter zum Bach gegangen, als sich Ghislaine zum Gehen anschickte, absichtlich, um nicht noch einmal ihrem entsetzten und traurigen Blick standhalten zu müssen. Jetzt waren die Hufschläge ihres Pferdes im Wald verklungen. Er packte sein Schwert, mit dessen Schärfung er bisher akribisch beschäftigt gewesen war und führte einige Probehiebe gegen das umgebende Buschwerk.
Ungewollt wanderten seine Gedanken zurück. In eine Zeit, die ihm jetzt so fern schien, die gar nichts Wirkliches mehr hatte, einem Traum ähnlicher als seinem eigenen Erleben. Der Hauptkonvent in Akkon… Er und zwei andere Jungen im Turnierhof…
Bruder Arnauds Stimme: „Merkt euch, es geht nicht um euren Sieg! Es geht nicht um euren Stolz! Es geht um den Sieg Christi! Lernt Demut!“
Es war ein besonders heißer Sommertag gewesen, und die Waffenübungen für die Jungen besonders anstrengend. Aber Arnaud war niemand, der ihnen deshalb Schonung gewährt hätte. Der Feind nahm auf das Wetter auch keine Rücksicht! Er zog den hustenden Jocelin wieder nach oben, den ein Kamerad aus dem Sattel geworfen hatte. „Aufs Pferd! Kümmere dich nicht um deinen verletzten Stolz! Hauptsache, DU bist nicht verletzt! Weiter! Der Herr verleiht nur dem den Sieg, der demütig genug ist!“
„Demut! WIE VIEL DEMUT NOCH?!“
„Bruder Jocelin?“
Die Stimme Jean de Saint-Florents riss ihn in die Gegenwart zurück, er senkte seine Klinge und starrte seinen Ordensbruder an. „Was gibt es?“
„Bruder...ich weiß, dass es Eure eigene Angelegenheit ist, aber Ghislaine –“
„Dann belasst es auch dabei!“
„Ich wollte Euch nur–“
„Ich sagte, belasst es dabei! Und LASST MICH ALLEIN!“
Sein Schwert durchtrennte den dünnen Stamm einer jungen Birke. Jean hielt es für besser, ihm nicht weiter in die Quere zu kommen. Ja, es war wohl tatsächlich ein ungünstiger Zeitpunkt! Für Komtur Jocelin, für ihn, und für Ghislaine. Eigentlich war es ein ungünstiger Zeitpunkt überhaupt, um zu leben! Er stieß ein sarkastisches Lachen aus, während er den Rückweg zur Höhle antrat und dabei einen quäkenden Frosch aus seinem Schlupfwinkel scheuchte. Die Tiere hatten es gut, brauchten sich nicht um Gott oder den Teufel zu sorgen!
Angetan mit den Insignien seiner Würde ruhte der Leichnam des Erzbischofs von Sens im Chor der Kathedrale. Die Kanoniker sangen das Totenoffizium, das ab und zu vom Geräusch einer tropfenden Kerze gestört wurde. Von den hochrangigen Gästen, die der Zeremonie beiwohnten, sorgte sich keiner besonders um die ewige Ruhe des Verstorbenen. Weit mehr beschäftigte sie
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