Die Tränen des Herren (German Edition)
durch das Gitter des Kerkerfensters. Jacques de Molay kniete auf den Steinfliesen, das Gesicht verzweifelt dem fahlen Schimmer entgegengestreckt. Seine Glieder waren starr vor Kälte, aber eine innere Qual jagte Feuer durch seinen Körper. Bedenkzeit war ihm geschenkt worden, doch was gab es zu bedenken? Es gab nichts zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Treue und Verrat, zwischen ewigem Heil und ewiger Schmach...
Es gab keinen Ausweg...
„Wenn ich verteidige, wird man mich auf den Scheiterhaufen bringen.” Kaum eine Stunde, nachdem die päpstliche Kommission ihn entlassen hatte, waren einige Männer des Königs zu ihm gekommen, um ihn daran nochmals zu erinnern.
Er wäre bereit, den Tod zu ertragen, ja er hätte ihn sogar begrüßt. Aber dann würde der Orden ohne Führung sein! Die Brüder hatten ihm strengsten Gehorsam geschworen, ohne seinen Dispens durften sie nichts tun! Der Prokurator wäre ohne Legitimation. Sein Tod - und die Inquisition konnte die Templer wie Schafe zur Schlachtbank treiben, genau das, was König Philipp wollte! Doch erhob er seine Stimme jetzt nicht für den Orden, war er keine Hilfe, sondern eine furchtbare Last, die die Brüder ins Verderben zog! Verhängnisvoll genug war sein erstes Geständnis, wenn er jetzt schwieg, wäre es unverzeihlich!
„O barmherziger Gott, erleuchte mich! Herr, in dir sind und von dir kommen alle Gnaden des Heiligen Geistes, erleuchte mich!“ schallte ein verzweifelter Hilfeschrei aus dem einsamen Kerker des Bischofspalais.
Als Jacques de Molay am folgenden Morgen erneut vor die Kommissare gebracht wurde, wusste er, dass er nicht verteidigen würde. Aber er würde auch nicht schweigen! Und war nicht das Bekenntnis des Guten ein ebensolches Zeugnis für die Unschuld des Tempels wie die Verleugnung der Anklagen?
Noch immer führte der Bischof von Mende den Vorsitz. In der gleichen selbstgefälligen, herablassenden Weise wie beim ersten Verhör des Ordensmeisters stellte er die Frage nach der Verteidigung.
„Ich bin ein armer und ungebildeter Mann“, erklärte Jacques de Molay. „Aber ich habe gehört, dass Papst Clemens sich meinen Fall reserviert hat. Führt mich vor den Heiligen Vater, und ich werde ihm sagen, was zur Ehre Christi und der Kirche ist! Ich bitte Euch, tut es bald! Auch ich bin nur ein sterblicher Mensch!”
„Sire Jacques, es ist nicht Aufgabe unserer Kommission, über Einzelpersonen zu richten, Euer Fall geht uns nichts an! - Wollt Ihr etwas bezüglich des Ordens sagen?“
„Ich kenne keinen Orden, in dem die Kirchen reichlicher ausgeschmückt wären als die Kapellen des Tempels. Unsere Priester feiern die Heiligen Geheimnisse in großer Ehrfurcht und Andacht. Die Laien drängten danach, von ihnen die Sakramente zu empfangen, bis der Papst ihnen den Zutritt in unsere Kapellen untersagte, weil die Brüder keine Gemeinschaft mit Sündern haben sollten. Alle Brüder des Tempels
empfangen dreimal im Jahr die Kommunion, so wie die Kirche es vorschreibt. Wir beten das Offizium wie alle Mönche. Und wir beten zwölf Vaterunser, zu Ehren Christi und der Jungfrau Maria, und sechzig Vaterunser für die Lebenden und die Toten. Das ist der Gnadenschatz, der jedem versprochen wird, der in den Tempel eintritt. Wir fasten vom Tag Allerheiligen bis zur Auferstehung des Herrn. Am Karfreitag kommen die Brüder barfuss in die Kapelle und werfen sich nieder vor dem Heiligen Kreuz. Nirgends werden reichlicher Almosen gespendet als in unseren Häusern. Wir haben gelobt für Christus zu leiden und zu sterben, und viele tausend Brüder haben ihr Leben für das Königreich Jerusalem geopfert-“
Eine abrupte Handbewegung des Bischofs von Mende unterbrach die leidenschaftliche Rede des Ordensmeisters.
„All das ist nutzlos, Meister des Tempels, wenn das Fundament des katholischen Glaubens fehlt!“
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Ein abendlicher Sturm brauste um die Mauern von La Blanche. Im Speisesaal hatte Ghislaine es als zu ungemütlich empfunden, und so aß sie jetzt gemeinsam mit Yvo in ihrer Kammer. Er hatte sie eigentlich schon gegen Morgen besuchen wollen, aber das Wetter hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, und erst in den Abendstunden war er aus Paris eingetroffen. Ghislaine blickte ihren Sohn an. Bei Gott, wo war der Junge mit den zerrissenen Hosen und den zerzausten Haaren hin?! Ein königlicher Knappe mit sorgfältig gekämmtem Haar saß ihr gegenüber. Allerdings verdrückte er sein Essen noch immer mit der atemberaubenden Geschwindigkeit
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