Die Tränen des Herren (German Edition)
ihm verzeihen! Wie konnte er je hoffen, Seine Gnade zu erlangen?! Jetzt trank er doch einen großen Schluck aus dem Krug und genoss die angenehme Wärme, die der Wein in ihm verbreitete.
„Sire Jean, richtet Jocelin aus, dass ich - nein“, unterbrach sie sich selbst. „Sagt ihm nichts! Nicht einmal, dass Ihr mich getroffen habt! Erklärt ihm, dass Ihr das Geld gefunden habt, oder irgendein Unbekannter es Euch zugesteckt hat!“
„Wenn es Euer Wunsch ist, werde ich das so halten, Madame.“
„Versprecht mir nur... Versprecht mir, dass Euer Schwert immer bereit sein wird, Jocelin zu verteidigen!“
„Ich werde ihn verteidigen. Mit meinem Schwert, mit meinem Leben, wenn es sein muss.“
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Eine steile Treppe führte aus dem Kerker der Stadtwache. Der Hauptmann erwartete Jocelin bereits ungeduldig in der Amtsstube. Angesichts der zerlumpten Gestalt, die nun zu ihm trat, schämte sich der Hauptmann plötzlich des Bestechungsgeldes, das er kassiert hatte für einen kurzen Aufenthalt des Fremden bei den Gefangenen. Er nahm einen großen Schluck aus der Weinkaraffe, um die mitleidige Stimmung zu verscheuchen und öffnete dem Ordensbruder die Hintertür.
Jocelin trat hinaus in die Nacht. Obwohl es schon April war, wehte noch immer ein eisiger Wind. Er wickelte sich in seinen Mantel und bog in die Nachbargasse ein. Die Gestalt, die sich hinter ihm aus der Dunkelheit löste, bemerkte er nicht.
Einen Augenblick später wurde er niedergerissen. Im Mondlicht blitzte eine Dolchklinge auf. Der Templer krallte die Finger in das Gewand des Angreifers, wollte ihn nur Seite drücken. Aber der Mann war stark, und er selbst hatte zuviel gehungert in den letzten Wochen. Die Klinge näherte sich Jocelins Kehle. Seine ganze Kraft sammelnd spannte sich der Ordensbruder, bäumte sich mit einem Ruck auf. Er bekam einen Arm frei und hieb dem Fremden die Faust ins Gesicht. Der eiserne Griff um seine Schultern lockerte sich, die Klinge zuckte zurück und zerfetzte seinen Mantel. Mit einer blitzschnellen Bewegung stieß Jocelin die Waffenhand des Angreifers gegen die Mauer, war auf den Füßen und riss das Schwert aus der Scheide. Wutschnaubend stürzte der Fremde auf ihn zu, eine Handvoll Straßendreck werfend. Jocelin stolperte, sein Gegner suchte ihn zu entwaffnen, aber es gelang ihm zu parieren und seinerseits anzugreifen. Ein rascher Hieb brachte den Attentäter zu Fall, wie schwer er ihn verletzt hatte, konnte er allerdings nicht erkennen. Zumindest schien er für einen Augenblick nicht fähig, Jocelin nachzusetzen.
Irgendwo aus der Dunkelheit klangen aufgeregte Stimmen und Waffenklirren. Wahrscheinlich war die Stadtwache auf dem Kampf aufmerksam geworden. Jocelin sah sich um. Er musste so schnell wie möglich fort von hier, wollte er keine Verhaftung riskieren. In einem der gegenüberliegenden Häuser erkannte er ein vergittertes Kellerloch. Hastig schob er sein Schwert zurück und rannte die Straße hinauf. Schon war der Fackelschein der Männer zu sehen. Das Gitter war eng, aber gerade breit genug, dass Jocelin sich hindurchzwängen konnte. Durch die Gitterstäbe beobachtete er, wie die Stadtbüttel sich um den verwundeten Fremden bemühten. Dann sahen sie sich kurz um. Offenbar war ihnen die Sache größerer Mühe nicht wert, denn schon bald rückten sie ab.
Der Ordensbruder zog sich mühsam wieder nach oben. Die Hand am Schwert sah er sich sorgfältig um, ehe er den Weg zu den Katakomben einschlug.
Die Nachricht von dem Überfall löste Bestürzung unter seinen Brüdern aus.
„Glaubt Ihr, dass der Stadthauptmann Euch verraten hat?” fragte Jean de Saint-Florent.
„Er wusste nicht, wer ich bin“, entgegnete Jocelin. „Aber es ist nicht unmöglich. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft.”
„Eines ist sicher“, warf Arnaud ein, ”er, der Euch überfallen hat, wusste genau, auf wen er wartete! Welcher Räuber würde Lumpengesindel wie uns angreifen? Wir müssen vorsichtiger sein. Ab jetzt werden wir nur noch zu zweit hinausgehen!”
„Vor nichts schrecken unsere Gegner zurück! Vor nichts!“
Zorn wallte in Jocelin auf. Wie vielen Brüdern hatte die Anklage des Königs schon das Leben gekostet, wie viele zu Krüppeln gemacht? Zu Tode gefoltert die einen, betrogen die anderen, und nun hetzte man ihnen, den letzten in Freiheit Verbliebenen auch noch Meuchelmörder hinterher! Es waren genug Tote, genug Leid! Selbst wenn Papst Clemens dem Orden endlich die Verteidigung gestattete, selbst wenn man ihn
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