Die Tränen des Herren (German Edition)
näher.
Ghislaine betrat das Gasthaus und schob die Kapuze ihres Reisemantels vom Kopf. Die Luft hier, eine Mischung aus Rauch, Schweiß und Speisegerüchen, drängte ihr nach der winterlichen Kälte auf der Straße wie eine Wand entgegen. Das Gasthaus war gut besucht zu dieser Stunde, umso besser, fand sie, für ein Treffen, wie sie es geplant hatte...
Ein zotteliger Hund strich an ihr vorüber, als sie sich setzte. Aber da sie noch kein Essen hatte, von dem sie ihm einen Brocken hätte zuwerfen können, trollte er sich und suchte an den anderen Tischen sein Glück. Weiter hinten, unter dem radförmigen Leuchter, saßen einige Mitglieder der Metzgergilde und tauschten sich über die beste Mast aus. Ihre lautstarke Diskussion klang bis zu Ghislaine. Ein Flackern der Kerzen auf dem Leuchter sagte ihr, dass die Tür gerade wieder geöffnet worden war. Aber es war nicht die Person, auf die sie wartete!
Ein schlaksiger junger Mann hatte die Schenke betreten, schälte sich jetzt aus seinem schäbigen Pelz und steuerte nach kurzem Zögern auf Ghislaine zu.
„Madame, Ihr seit neu in Paris?“ Ehe sie etwas erwidern konnte, sprudelte er hervor: „Ich kenne die Stadt! Jeden Winkel, alle wundervollen und verschwiegenen Plätze! Ich kann Euch sagen, zu welcher Stunde wo die feierlichsten Messen gesungen werden, in welchen Kirchen die heilsamsten Reliquien zu finden sind! Ich führe Euch, gegen einen nur winzigen, wirklich absolut unerheblichen Obolus! Oder sucht ihr eine Herberge? Oh, ich kenne die besten Häuser! Keine Wanzen, keine Flöhe, sauberes Bettzeug und -“
Er verstummte, als der Schatten eines Mannes auf ihn fiel und hielt es dann für besser, sich eiligst zu verdrücken.
Ghislaine erkannte erleichtert Jean de Saint-Florent. Sie war ihm am Morgen begegnet, aber da hatte sie nur noch Gelegenheit gehabt, rasch diesen Treffpunkt auszumachen. Den ganzen Tag über hatte sie sich gefragt, ob er wirklich kommen würde.
„Nun, was darf ich den Herrschaften bringen?“
Die pausbäckige Wirtin mit dem fest um den Kopf geknoteten Kopftuch musterte die Gräfin und den noch stehenden Ordensbruder erwartungsvoll.
Jean de Saint-Florent wollte ihr mit einem hastigen Kopfschütteln zu verstehen geben, dass er nichts wolle, aber Ghislaine antwortete bereits: „Ich denke, du hast eine ordentliche Fleischsuppe und einen guten Wein im Angebot, Wirtin?“
„Oh ja, Madame, nur vom Feinsten! Selbst der Magistrat lässt sich von uns bekochen!“
„Gut, dann bring uns zwei Portionen!“
Sie nickte eifrig und eilte zurück in die Küche, begleitet vom anzüglichen Pfeifen eines der Gäste.
„Messire, ich bin so froh, Euch zu sehen!“ wandte Ghislaine sich an den Ordensbruder. „Ich bin seit zwei Wochen in der Stadt und habe immer gehofft, einen von den Brüdern zu treffen! Sind... alle in Paris?“
„Ja.“
„Und wie kommt Ihr zurecht?“
Ein mattes Lächeln schimmerte durch seinen wilden Bart. „Vermutlich könnten wir alle eine dicke Suppe und einen warmen Schlafplatz gebrauchen! Aber ich will nicht undankbar gegen Gottes Barmherzigkeit sein! Wir sind frei, keiner von uns ist ernstlich krank - das ist in dieser Zeit mehr, als ... als manch andere haben.“
Die Wirtin hatte zwei Krüge mit gewürztem Wein auf dem Tisch abgestellt. Er zog das Gefäß zu sich heran und schloss die Hände darum, wagte aber nicht zu trinken.
„Und Sire Jocelin? Ihm geht es auch gut?“
Jean nickte und hoffte, nicht genauer werden zu müssen. Einerseits wollte er die Gräfin nicht belügen. Andererseits...
Sollte er von der Verzweiflung erzählen, die sie alle und ihren Komtur manchmal ergriff, von den Bußübungen, die Jocelin sich auferlegte, von den Höllenvisionen Arnauds?
Ghislaine fragte nicht weiter. Sie hatte die Augen halb geschlossen und ihre Wimpern warfen Schatten auf ihre von der Kälte geröteten Wangen. Ahnte sie etwas von dem, was er zurückhielt? Plötzlich griff sie unter ihren Mantel und schob Jean einen Moment später einen kleinen Lederbeutel zu.
„Nehmt das! Mehr habe ich zurzeit nicht bei mir!“
Er fühlte die Form von Münzen unter den Fingern.
„Ich danke Euch, Ghislaine. Alle Engel des Herrn mögen Euch beschützen!“ Nein, er war sicher, dass sie dies bereits taten! Wie konnte ein so schönes, gütiges Geschöpf nicht in der Gnade des Herrn stehen? Jocelin ist ein Narr, schoss es ihm durch den Kopf, und in derselben Sekunde schämte er sich für diesen - und alle ähnlichen Gedanken. Gott mochte
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