Die Tränen des Herren (German Edition)
freisprach - konnten diese üblen Verleumdungen je wieder getilgt werden? Konnten die Brüder diese Jahre der Verfolgung vergessen, ihren Folterern vergeben? Konnte er es?
Er blickte auf das armselige Bündel Mensch, das hinter den Brüdern in der Wandnische lag. Auf ein Gesicht, das er kannte und das ihm doch ganz fremd war. Louis... Am Morgen hatte ihn Ranulf auf dem Marktplatz gefunden. Er hatte sie nicht erkannt. Keinen von seinen Brüdern hatte er erkannt und auch kein Wort gesprochen. Er musste Furchtbares erlebt haben. Gott allein wusste, wie er überhaupt bis Paris gefunden hatte!
Es war nach Mitternacht, als Guillaume de Nogaret die Schreibfeder aus der Hand legte. In seinem Kamin war die letzte Glut erloschen. Der Siegelbewahrer schloss die Augen. Doch schon bald weckte ihn ein kratzendes Geräusch aus seinem Schlummer. Still wartete er einige Augenblicke. Das Geräusch wiederholte sich. Es klang, als werfe jemand Kiesel gegen das Glas.
Nogaret öffnete das Fenster einen Spalt weit. Unten auf der Straße stand ein Mann in dunkler Kleidung. Er hob die Hand und machte dem Siegelbewahrer ein Zeichen. Nogaret nickte nur. Wenig später stand der Dunkelgekleidete in seiner Kammer.
„Nun?”
„Sire, ich hätte ihn fast erwischt...”
„Fast?!”
„Seht, wie er mich zugerichtet hat!” Der Mann öffnete sein Gewand. Guillaume de Nogaret sah einen Verband über Brust und Schultern.
„Wie lang bist du jetzt schon hinter diesem Templer her?” fragte er ungerührt. “Über ein Jahr! Vielleicht sollte ich mich nach einem besseren Mann umsehen?”
„Gebt mir noch ein paar Männer und ich erledige ihn!”
„Nein.”
Mehr Leute, das bedeutete mehr Mitwisser und mehr Mitwisser ließen die Gefahr größer werden, dass die Anschläge verraten wurden und misslangen.
„Du wirst ihn allein erledigen, und zwar bald!”
Erzbischof Gregor hatte die Anhörung aller bisher eingetroffenen Verteidiger des Templerordens geplant. Als mehr und mehr Zeugen erschienen, war ihm klar geworden, dass die Kapelle des Bischofspalais sie nicht alle würde fassen können. So hatte er die Anhörung in den Garten verlegt. Doch selbst dieser schien nicht ausreichend. Notare drängten sich nervös durch die Menge der Ordensbrüder in dem beinahe aussichtslosen Bemühen, Namen und Herkunft der Zeugen festzuhalten.
Der Erzbischof verfolgte das Treiben vom Balkon aus. Er gestand sich eine gewisse Befriedigung über den großen Erfolg der endlich durchgesetzten Vorladung ein. Der Bischof von Mende, der gerade neben ihn getreten war, teilte dieses Gefühl nicht.
„Es wäre besser, Ihr würdet noch eine Abteilung königlicher Söldner zu unserem Schutz anfordern!“ sagte er, den Blick zu den wenigen Bewaffneten gewandt, die man auf die Mauer befohlen hatte.
„Haltet Ihr solche Männer für fähig, die Hände gegen uns zu erheben?“ entgegnete Gregor von Rouen und wies auf zwei Ordensbrüder, die einen alten Gefährten stützten.
„Sie wollen nichts anderes als vor Unserer Kommission auszusagen!“
Voller innerer Anspannung und mit brennender Erwartung schritten Jocelin und seine Gefährten dem Bischofspalast zu. Würde man sie heute wirklich anhören? Würde das Leben im Untergrund bald zu Ende sein? Nach all den letzten Monaten, allen Enttäuschungen und falschen Versprechungen konnte er das kaum glauben. Er schob die Hand in den Lederbeutel, den er über der Schulter trug. Seine Finger ertasteten das Ordenskreuz. Heute würden sie zum ersten Mal seit fast drei Jahren wieder öffentlich ihr Habit tragen. Ein beinahe unwirkliches Gefühl!
Die Brüder hatten das Palais erreicht. Sie öffneten ihre Taschen und Bündel. Überrascht sahen die Torwächter, wie aus dem Häuflein zerlumpter Bettler eine Schar Templer wurde.
Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft Jocelins und seiner Gefährten. Freudig wurden sie begrüßt. Viele der jetzt Verteidigungswilligen verdankten ihren wieder gewonnenen Mut allein den Besuchen der freien Templer.
Jocelin fragte nach Pietro di Bologna. Jetzt, wo die Verteidigung des Ordens Gestalt anzunehmen schien, brauchten Arnaud und er unbedingt die fachkundige Beratung des alten Rechtsgelehrten. In den Monaten zuvor waren alle Versuche, mit ihm und den anderen Gefangenen im Louvre Kontakt aufzunehmen, gescheitert. Endlich konnte einer der Brüder Jocelin und Arnaud zu Pietro di Bologna führen…
„Ihr also seid der berühmte Komtur der freien Templer!” rief der alte
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