Die Traenen des Mangrovenbaums
hinzu: »Ich bin ein geschickter Zeichner, und es heißt, dass Menschen, die gut zeichnen können und leicht Sprachen lernen, im Gegenzug schlechte Rechner und unmusikalisch sind … was auf mich leider tatsächlich zutrifft.«
»Das macht nichts. Ich möchte ohnehin lieber ein wenig an die frische Luft. Das viele Essen und das enge Korsett … und es ist so heiß hier drinnen.«
Sie legte ihr Cape um und trat mit ihm auf den Balkon hinaus. Lampen brannten in der Mitte der langen steinernen Balustrade, aber die Winkel lagen im Dunkeln, und in schweigendem Einverständnis zogen sie sich in einen der Winkel zurück.
Simeon seufzte leise. »Wenn schon die Verlobung so anstrengend ist, frage ich mich, wie ich die Hochzeit überstehen soll«, bemerkte er, halb im Scherz, aber doch mit einem Unterton von Verdruss in der Stimme. »Ich habe nicht viel übrig für solche lärmenden Festlichkeiten. Andererseits …« Er ließ einen weiteren Seufzer folgen. »… heiratet man ja nicht jeden Tag. Und in Java werden wir wohl kaum große Gesellschaften geben müssen.«
Anna Lisa fasste sich ein Herz. Es musste einfach einmal gefragt werden, sie hielt es nicht länger aus. »Da Sie in Kürze mein Gatte sein werden«, sagte sie, wobei sie sich dicht an ihn kuschelte, »darf ich Ihnen wohl eine sehr persönliche Frage stellen?«
»Gewiss«, antwortete er, willfährig, aber auch ein wenig argwöhnisch. »Was möchten Sie denn wissen?«
Obwohl sie beide für sich allein in einem Winkel des Balkons standen, dämpfte das Mädchen die Stimme. »Ob alle Männer gleich aussehen. Dort, wo sie Männer sind, meine ich.«
Simeon war sichtlich verblüfft. »Aber gewiss«, antwortete er. »Alle sehen ganz gleich aus, sogar die Chinesen und die schwarzen und braunen Männer. Soviel ich weiß, jedenfalls«, fügte er einschränkend hinzu. »So viele nackte Männer habe ich nun ja noch nicht gesehen. Ich weiß das auch nur aus Büchern.« Dann merkte er, dass seine Antwort etwas Niederschmetterndes für sie hatte, und während er sanft ihre Hand ergriff, fragte er: »Warum erschreckt Sie das?«
Anna Lisa suchte nach höflichen Worten und fand keine, und halb erstickt von dem Kloß in ihrer Kehle platzte sie schließlich heraus: »Ich wünschte, es würde bei Ihnen nicht so hässlich aussehen.«
»Es gab also jemand, bei dem es hässlich aussah?« Er war betroffen und verwirrt, aber bei dem Gedanken, sie könnte bereits einen Mann nackt gesehen haben, schwang auch ein unterdrückter Groll in seiner Stimme mit.
Anna Lisa spürte seine Missstimmung und war den Tränen nahe. »Ja!«, rief sie so laut, dass er ihr erschrocken den Finger auf den Mund legte und »Husch!« machte. Sie beherrschte sich nur mit Mühe. »Und ich wünschte, ich hätte es nie gesehen! Mir ekelte so davor – dieser betrunkene Lump – und er pisste wie ein Pferd – und der Gedanke … die Vorstellung …«
Simeon begriff erleichtert, dass sie offenbar nicht von einem verflossenen Liebhaber sprach. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie nahe an sich. »Erzählen Sie mir, was Sie bedrückt.«
Die junge Frau gehorchte unter Tränen. Er lauschte aufmerksam, dann hob er die Hand und strich mit einem Finger die nassen Perlen von ihrer Wange. »Ich verstehe«, sagte er. »Nun, das war ein sehr schlimmes Erlebnis, da haben Sie recht. Aber sehen Sie, als ich Ihnen die Antwort gab, dass alle Männer gleich aussähen, da meinte ich es in dem Sinne, wie alle Menschen einen Kopf und vier Gliedmaßen haben oder alle Blumen einen Stängel, Blätter und Blüten. Und dennoch, wie verschieden sind sie! Außerdem kommt es sehr auf den Besitzer an. Wenn Ihnen ein Mann gefällt, dann wird Ihnen auch das an ihm gefallen.«
Anna Lisa war nicht ganz überzeugt, aber sie lächelte tapfer.
Er fuhr in einem sanft belehrenden Ton fort: »Gewiss, zuerst ist alles ein wenig ungewohnt. Es ist jedoch sehr wichtig, dass Sie sich damit anfreunden. Sehen Sie, für einen Mann hat dieser Teil seiner selbst eine große Bedeutung, viel wichtiger, als eine Frau sich das an ihrem Körper vorstellen kann. Die weiblichen Teile sind bescheiden und verborgen, aber die männlichen sind groß und prunkvoll, sie sind von Gott dazu gemacht, angesehen und beachtet zu werden – natürlich nicht von jedermann, aber auf jeden Fall von der Gattin. Es gibt keinen Grund, sich angewidert zu zeigen, wie es manche überempfindliche Frauen tun; das kränkt und verärgert den Mann. Wenn Sie mich wirklich
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