Die Traenen des Mangrovenbaums
Morgenrock, der bequem in Griffweite am Bettpfosten hing. Ächzend richtete er den vom Schlaf verkrampften Rücken auf: Ein vierschrötiger, kurzbeiniger Mann mit übermäßig langen, knochigen Armen und einem dicken, rötlich grauen Haarschopf, was ihm das Aussehen eines greisen Orang-Utans verlieh – nur dass er weitaus weniger liebenswert war als diese sanftmütigen Affen. Seine Augen waren klein, hellblau und hart. Er zog seine Stiefel unter dem Bett hervor und schüttelte sie gründlich aus, da sich des Nachts oft Kakerlaken, ja sogar Schlangen und Skorpione darin einen Unterschlupf suchten. Dann zog er sie an und schnürte sie sorgfältig zu, denn trotz einer fleißig fegenden Dienerschaft wuselte auf dem Boden allerhand mit Giftstacheln bewehrtes Ungeziefer herum.
Wolkins begann jeden Tag mit demselben Ritual. Mit einem Glas Whisky in der Hand trat er auf die weiß gestrichene Veranda hinaus, die rund ums Haus lief. Sein Vorrat an Whiskyflaschen füllte ein ganzes Regal. Er verabscheute den landesüblichen süßen Palmwein und den Limonenlikör und verweigerte den würzigen holländischen Wacholderschnaps, den Genever. Stattdessen genoss er eine halbe, zuweilen auch eine ganze Flasche Whisky am Tag. Der Whisky erleuchtete seine Gedanken und schärfte seine geistigen Fähigkeiten auf außergewöhnliche Weise, und genau das brauchte er jetzt. Er befand sich nämlich in einer äußerst unangenehmen Zwickmühle. Wie man es in seinem Heimatland ausdrückte: You’re damned if you do and you’re damned if you don’t.
Er atmete tief durch. Um diese Zeit, da die Dämmerung sich eben erst verzogen hatte, war die Luft noch erfrischend, vor allem hier oben, denn das Herrenhaus – ein buntes Gebäude in dem überladenen Stil, der für den Geschmack reicher Javaner typisch war – lag auf der Hochebene, deren steile, in Terrassen abfallende Hänge die Sundastraße säumten. Noch war alles still, nicht einmal die Pferde in den Ställen rührten sich.
Als der Verwalter gemächlich die Veranda entlangschritt, fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf. Der weiß gekieste Weg, der zur Haustür führte, war nicht wie üblich säuberlich gekehrt, sondern mit frisch abgerissenen, stachelbewehrten Blättern bestreut. Wolkins stützte sich auf das Geländer und spähte hinunter. Die Blätter waren die einer wild wachsenden Pflanze mit Namen Mengkuang, und Wolkins kannte das Land gut genug, um ihren Zweck zu verstehen. Diesmal war kein Suduk am Werk gewesen, keiner dieser Schamanen, die ihm mit ihren Hexenkünsten die Pest an den Hals wünschten, im Gegenteil, jemand hatte versucht, das Haus zu schützen. Die aromatischen Blüten und Blätter auszustreuen oder die Dornenranken des Mengkuang um Fenster und Türen zu flechten, galt als sicherstes Mittel gegen Angriffe einer Penanggalan, dieser scheußlichsten der vielen scheußlichen Unholde Javas. Vermutlich, dachte Wolkins, war irgendwo in der Umgebung eine Bäuerin im Kindbett gestorben, und jetzt zitterten die braunen Dummköpfe vor dem blutgierig herumschweifenden Monster.
Mit einem kurzen Schlag gegen den an der Eingangstür hängenden Gong rief er seinen Diener herbei und ordnete an, ihm das Frühstück auf der schattigen Veranda zu servieren.
»Und sieh zu, dass die Wege gekehrt werden! Ich will keine welken Blätter auf meinen Wegen!«
Dem Gesicht des Dieners war anzusehen, wie gerne er widersprochen hätte, aber er tat es nicht. Wolkins war flink zur Hand mit der kurzen Schweinslederpeitsche, die in seinem Stiefelschaft steckte. Wehe dem Diener, der nicht außer Reichweite war, wenn der Engländer seinen langen, knochigen Arm danach ausstreckte! Dabei war den Mohammedanern die Tatsache, dass sie bei einem Hieb mit dem unreinen Schweinsleder in Berührung kamen, fast noch widerwärtiger als der brennende Schmerz, also hüpften sie flink wie Geckos, sobald ihnen ein Befehl erteilt wurde.
Wolkins verließ den Balkon, zog die innere Tür mit dem Fliegengitter hinter sich zu und setzte sich an seinen Schreibtisch. Vor ihm lag die allerneueste – das heißt zwei Tage alte – Ausgabe des Java-Bode . Er blätterte sie eilig durch, wie immer auf der Suche nach einer bestimmten Nachricht. Diesmal fand sich jedoch in der Zeitung kein Bericht über den geheimnisvollen europäischen Schurken, der in Komplizenschaft mit eingeborenen Rebellen den Kolonialherren das Leben schwer machte. Wolkins war enttäuscht. Er hatte eine gewisse unbestimmte Ahnung, um wen es sich handelte, und
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