Die Träume der Libussa (German Edition)
geworden. An eine Hauswand gelehnt, rang sie nach
Atem. Ein ausgezehrter, verkrüppelter Straßenhund wühlte ein Stück neben ihr im
Unrat. Sie meinte plötzlich, in ihm ihr Ebenbild zu sehen, und erschrak über
den Drang, nach dieser Elendsgestalt zu treten.
Tränen schossen
ihr in die Augen. Am liebsten würde sie sich in die Arme ihrer verstorbenen
Mutter werfen. Oder wenigstens zu Anahild flüchten, ihrer gutgläubigen
Schwester, die freiwillig im Kloster auf der Insel geblieben war.
„Wo warst du denn so lange? Das
Essen wird schon kalt. Oder hast du wieder einmal keinen Hunger?“
Radegund
drängte sich an ihrer missmutig dreinblickenden Stiefmutter Gudrun vorbei und
eilte in ihre Kammer. „Ich will nur etwas Brot, Suppe und Wasser. So bin ich es
aus dem Kloster gewöhnt. Schließlich war ich lang genug dort.“
Sie mochte
Gudruns Essen nicht. Vor vielen Jahren, als ihr Vater die angetraute Gemahlin
zu Grabe getragen und seine Kebse zu ihrer Nachfolgerin gemacht hatte, war
Radegunds Ekel vor fettem Fleisch der Anlass für so manche Streiterei gewesen.
„Das Mädchen
ist sich zu fein für mein Essen", hatte Gudrun gemurrt. „Dabei sagen alle,
dass ich eine gute Köchin bin.“
„Das bist du
auch", bestätigte der Vater. "Man sieht es dir an. Jeder Mann wünscht
sich eine Frau mit Fleisch auf den Knochen.“ Er legte seine Hände auf Gudruns
breite Hüften. Radegund erinnerte sich an den gertenschlanken Leib ihrer
eigenen Mutter und verlor den letzten Rest an Appetit.
Radegunds
Mutter stammte aus dem Süden, aus der alten Römerstadt Ravenna. Sie hatte ihren
Töchtern von Weinbergen erzählt und von Häusern, deren Böden beheizt waren.
Radegund war ihr mit den Jahren immer ähnlicher geworden. Sie war stolz auf ihr
pechschwarzes Haar und die schlanke Gestalt. Sogar ihre lange, gekrümmte Nase
gefiel ihr, obwohl Gudrun missmutig meinte, bei einer Frau sei dies ein
Schönheitsfehler. Nur Männer würden dadurch eindrucksvoll wirken.
Gudrun, das
Bauernmädchen, war Clothards erste Gemahlin gewesen, doch das begriff Radegund
erst mit den Jahren. Sein Friedelweib. Aus gegenseitiger Zuneigung hatten sie
geheiratet und der Ritus der Friedelehe ließ Gudrun alle Freiheiten. Später
zwang seine Familie Clothard zur Ehe mit einer Tochter aus adeligen Kreisen,
die Mitgift einbrachte. Er war selbst ein Edeling mit etwas Landbesitz und
gehörte zur Gefolgschaft des Herzogs Tassilo. Da er als Krieger und Berater die
Anerkennung dieses Herrschers gewinnen konnte, schien sein Stern zunächst zu
steigen. Er sank gemeinsam mit eben jenem Herzog, dem Letzten der Agilolfinger.
Angeblich hatte Tassilo sich gegen den Frankenkönig verschworen und war ein
Bündnis mit den Schrägaugen eingegangen, wie man die Hunnen oder Awaren nannte.
Wie jeder, der sich König Karl entgegenstellte, wurde er aus dem Weg geräumt.
Nach seiner Abdankung ging er ins Kloster, da im weltlichen Leben kein Platz
mehr für ihn war.
Clothard verlor
den Großteil seines Besitzes, da er als Mitverschwörer galt. Seine angetraute
Gemahlin ertrug die Armut noch schlechter als die frostigen Winter. Sie starb.
Doch der Witwer suchte keine Zuflucht im Kloster. Er richtete sich auf ein
bescheidenes Leben in einem kleinen Haus in Regensburg ein, das der König ihm
gnädig gelassen hatte, und heiratete seine seine Jugendliebe Gudrun nach christlichem
Ritus. Sie schwor ohne Murren, ihm in Zukunft untertan zu sein. Dann tat sie
weiterhin, was ihr gefiel, und Clothard beobachtete sie dabei mit glücklich
strahlenden Augen.
Diese Liebe
zwischen Mann und Frau schien Radegund wie eine Insel, auf die sich beide
zurückzogen. Für andere Menschen war dort kein Platz. Als Gudrun den ersten
Sohn gebar, wurden ihre zwei Stieftöchter den Nonnen auf der Insel im Chiemsee
zur Erziehung übergeben.
Zwei Wochen nachdem sie das erste
Getuschel auf dem Marktplatz gehört hatte, kehrte Radegund missmutig dorthin
zurück. Seit Menschengedenken war am ersten Mai gefeiert worden, und nach der
Messe und dem feierlichen Umzug begann nun der Tanz. Radegund nahm nur
widerwillig teil. Ihre Freundin Brunchild hatte sie in den letzten Tagen immer
wieder darauf hingewiesen, dass Gerüchte über sie im Umlauf seien. Die ganze
Stadt wusste vielleicht schon, was für eine leichte Eroberung die Tochter des
einst so angesehenen Clothard für einen unbekannten Händler auf der Durchreise gewesen
war. Ein spöttisches Funkeln in Brunchilds Augen überschattete dabei
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