Die Träume der Libussa (German Edition)
trat allmählich eine Ernüchterung ein. Ihr Sohn war wieder
bei ihr. Aber was war aus diesem Sohn im Frankenreich geworden?
„Ich dachte,
wir könnten eine Weile in Ruhe miteinander plaudern“, begann sie und erschrak
über den angespannten Ton ihrer Stimme. Lidomir nickte nur. Er sah ernst und
grüblerisch aus, wie er bereits als Kind gewesen war. Sie wies ihm einen
Schemel und schenkte den Met selbst ein. „Wie fühlst du dich jetzt, da du
wieder bei deinen Leuten bist? Vermisst du das Frankenreich?“
„Natürlich tue
ich das nicht“, kam es sogleich. Libussa lächelte.
„Du kannst mir
die Wahrheit sagen. Ich bin deine Mutter. Sonst hört niemand zu.“
Lidomir starrte
in seinen Becher. „Ich bin sehr froh, wieder hier zu sein. Ich habe all die
Jahre darauf gewartet, heimzukehren“, begann er zögernd. „Aber nun wird mir
bewusst, dass ich mich an mein Leben in Aachen gewöhnt hatte. Da war ein
Priester, der mich unterrichtete. Ein guter, weiser Mann. Du hättest ihn auch
gemocht, Mutter. Manchmal vermisse ich ihn und all sein Wissen."
Seine Worte
versetzten Libussa einen Stich. „Hältst du uns nun für unwissend im Vergleich
zu den Franken?“
Er schüttelte
energisch den Kopf. „Schon als Kind hatte ich Achtung vor dir. Ich weiß auch,
dass Kazi sehr weise ist, und andere Leute unseres Volkes, wie die Schamanen,
kennen uralte Traditionen. Ich gehöre hierher. Doch manchmal ist es schwer,
sich heimisch zu fühlen. Ich mache mir auch Sorgen um Radegund. Ich will, dass
sie an meiner Seite glücklich ist.“
„Das wollen wir
alle“, meinte Libussa schnell. Kaum war dieser Satz ausgesprochen, kamen ihr
Zweifel. Die Fränkin hatte einige Feinde in Praha, doch mit der Zeit würden
diese sich vielleicht beruhigen. „Ich hoffe, alles wendet sich zum Guten.
Manchmal muss man warten können. Aber sage mir Lidomir, was für ein Leben
erhoffst du dir hier als mein Sohn?“
Seine Augen
weiteten sich staunend. „Ein Leben, wie es mir bestimmt ist.“
Libussa war
nicht wohl bei seinen Worten. „Hältst du dich für berufen, eines Tages Kroks
Nachfolge anzutreten?“
Ihr Sohn
schwieg lange und vermied es, sie anzusehen. „Ich weiß es nicht“, gestand er
dann. „Mir ist klar, dass ich für meine Leute nun ein Fremder bin. Außerdem
habe ich sicher viele von unseren Sitten vergessen oder hatte gar keine
Gelegenheit, sie zu lernen. Sollte die Wahl auf jemand anderen fallen, so werde
ich mich nicht dagegen auflehnen.“
Seine
Haltung entspannte sich. Endlich nahm er einen Schluck aus seinem Becher.
Libussa streckte die Hand nach ihm aus und fühlte erleichtert den Druck der
seinen.
„Ich
werde es mit Onkel Krok besprechen, wenn es an der Zeit ist“, sagte sie. Die
Gewissheit, dass Lidomir sich nicht nach einem solchen Amt sehnte, war
beruhigend. Schon als Kind hatte er sich ungern anderen aufgedrängt, war lieber
Beobachter gewesen als jemand, der handelte. Anders als Mnata, der zum Krieger
geboren schien.
3
Nach dem Gespräch mit Libussa
schien Lidomir entspannter und begann allmählich, unaufgefordert über sein
Leben im Frankenreich zu erzählen. Als sie sich einige Wochen vor dem Frühlingsfest
alle wieder zum Mittagsmahl versammelt hatten, beschrieb er ausführlich große
Gebäude aus Stein und von Römern errichtete Festungsanlagen sowie Räume voller
Rollen oder zwischen zwei Deckel gehefteter Pergamentbögen, die mit
Schriftzeichen bedeckt waren. Sie erzählten Geschichten über den christlichen
Gott. Manche enthielten auch von den Römern überliefertes Wissen, doch galt es
als umstritten, ob gute Christen solche Texte studieren sollten.
„Der
Christengott scheint mir eifersüchtig wie die christlichen Ehemänner",
warf Premysl mit dem gewohnten Spott ein. „Ständig hat er Angst, seine Anhänger
könnten jemand anderen auch nur ansehen.“
„Es geht den
Kirchenmännern darum, den Glauben rein zu halten", erwiderte Lidomir.
„Doch nicht jeder Christ wehrt sich gegen alles Fremde. Vater Anselm, ein
Priester, bei dem ich aufwuchs, ließ mich jedes Buch studieren, das er besaß.
Er hatte Schriften der alten Gelehrten gesammelt, die aus den Bibliotheken der
Klöster verbannt wurden. Sie enthalten viele Gedanken über das Leben. Wie es
geführt werden sollte und welchen Sinn es eigentlich hat. Es bereitete mir
große Freude, sie zu lesen.“
Libussa hätte gern mehr darüber
erfahren, doch Premysl kam ihr zuvor. „Wer macht sich nicht manchmal Gedanken
über den Sinn
Weitere Kostenlose Bücher