Die Träume der Libussa (German Edition)
Frauen, nicht umgekehrt. Doch
wenn ein Mann sich einfach nicht traut, weil er fest damit rechnet, abgewiesen
zu werden, dann könnte eine Frau doch … ich meine, es muss doch Wege geben, ihn
zu ermutigen oder nicht?“
„Wichtig ist,
dass ein Mann immer das Gefühl hat, selbst eine Entscheidung getroffen zu haben“,
erwiderte Radegund. „Männer mögen es nicht, wenn Frauen ihnen das abnehmen. Das
heißt, manchmal mögen sie es schon, doch es darf nicht zu offensichtlich sein.
Mache dem Mann klar, dass er keine Zurückweisung zu fürchten braucht, und dann
überlasse ihm den ersten Schritt", erklärte sie und staunte, wie einfach
das alles klang. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie sich damals
gegenüber Lidomir so verhalten hatte, doch darauf kam es jetzt nicht an.
„Um wen geht es
eigentlich?“, fragte sie.
Scharkas
Gesicht war wie eine geöffnete Tür, die Einblick in ihr Inneres gewährte.
„Um
Mnata", flüsterte sie.
Der Hunne!
Radegund hätte beinah laut aufgelacht. Die schräg gestellten Augen des jungen
Mannes hingen stets mit einem warmen Leuchten an Scharkas Gestalt. Aber Wie
schwer konnte es sein, ihn seinen eigenen Wünschen gemäß handeln zu lassen?
Scharka war ein Mädchen, nach dem sich alle umsahen, wenn sie über den Hof
ging. Von edler Abkunft, schön und allseits beliebt. Ihre Unbedarftheit war für
Radegund geradezu unbegreiflich.
„Er war immer
wie ein Bruder für mich“, fuhr Scharka verwirrt fort. „Aber mit den Jahren
veränderten sich meine Gefühle für ihn. Ich sah die Liebe zwischen meinen
Eltern, wie sie einander ansahen, berührten und alle Entscheidungen miteinander
besprachen. Es ist in meinem Volk nicht üblich, dass Mann und Frau so lange und
so eng zusammenleben, aber ich wünsche mir eine ebensolche Verbindung und
fragte mich, wer dafür in Frage käme. Mir fiel niemand anders ein als Mnata.
Ich weiß, dass ich ihm völlig vertrauen kann, und es geht so viel Wärme von ihm
aus. Ich wünsche mir, dass er mich berührt, doch er wahrt immer Abstand, vor
allem, seit ich die Schläfenringe einer ungebundenen Frau trage und Männer um
mich werben dürfen.“
Radegunds war
verblüfft. Diese Vertrauensseligkeit kam völlig unerwartet, und sie wusste
nicht, wie sie reagieren sollte. Hatte Scharka denn keine andere Vertraute? Es
musste damit zusammenhängen, dass sie eine Fremde war.
„Hat deine
Mutter Mnata nicht als ihren Sohn angenommen? Damit ist er doch dein Bruder?“,
sprach sie ihren ersten Gedanken aus.
Scharka
schüttelte den Kopf. „Libussa nahm Mnata in unseren Clan auf. Viele Menschen
gehören dazu, die Schwestern meiner Mutter und deren Kinder. Auch die Mädchen
hier sowie viele unserer Krieger. Sie sind die Kinder von entfernten
Verwandten. Ich kann durchaus einen Mann des Clans zu meinem Gefährten machen.
Das ist nicht verboten.“
„Jeder kann
sehen, dass Mnata dich anschmachtet", erwiderte Radegund und staunte über
Scharkas verwundertes Lächeln.
„Die anderen
Mädchen haben auch schon Scherze darüber gemacht. Vermutlich stimmt es. Aber
ich glaube, er fühlt sich immer noch als Fremder, der nur geduldet wird. Und
ich ... ich bin die zukünftige Fürstin und Hohe Priesterin. Kann es sein, dass
er sich deshalb zurückhält?“, fragte sie unsicher.
Radegund fand
die Situation geradezu lachhaft Die Kleine konnte vermutlich jeden haben,
dachte sie, und dann will sie einen Hunnen, der seinen Mund nicht aufbekommt.
Einen Augenblick war sie versucht, Scharka durch einen bewusst falschen Rat
einen Streich zu spielen, doch ihre Erinnerung an Anahild hinderte sie daran.
Sie wollte kein Mensch werden, der ihrer Schwester missfallen würde.
„Es ist
möglich, dass deine Stellung ihn einschüchtert. Dann musst du ihm etwas
entgegenkommen. Ihn ermutigen, verstehst du. So schwierig kann es nicht sein.“
Nun leuchtete
Scharkas Gesicht wie eine frisch angezündete Fackel. „Eben das wollte ich
hören", rief Lidomirs Schwester. „Bald schon ist Frühlingsfest. Dann
bemalen die Frauen Eier, die sie den Männern ihrer Wahl überreichen. Ich werde
meine Mnata schenken.“
Radegund
nickte. So einfach war es also. Bald schon würde Scharka ihren Hunnen in die
Arme schließen. Einen jungen Mann, der trotz seiner fremden Gesichtszüge
anziehend wirkte, denn sein muskulöser Körper strahlte Kraft und
Zuverlässigkeit aus. Er war wie ein Fels in stürmischer Brandung. Scharka hatte
ihn von Kindheit an gekannt und wurde von ihm angebetet. Niemals würde
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