Die Träume der Libussa (German Edition)
bereits dort versammelt sein, denn es war still und
dunkel im Gang. Sie trug ihre Fackel vor sich her, deren Licht die Wände
erhellte. Die Schatten schienen vor ihren Augen zu tanzen, drehten sich im
Kreis und sprangen herum. Ihr war schwindelig, als das Bild vor ihr auftauchte.
Eine Frau
mittleren Alters, deren Gesicht sehr deutlich die Züge Ludmillas trug, kniete
auf dem Boden eines großen, hellen Raumes. Sie war ganz in ein pechschwarzes
Gewand gehüllt, das selbst ihren Kopf verbarg. Nur ihr Gesicht war von weißem
Tuch eingerahmt, so dass Kinn und Nase deutlich hervorstachen. Auch erwachsene
Frauen der Behaimen trugen Kopfbedeckungen, doch waren diese entsprechend ihrem
Rang verziert und mit silbernen Ketten um die Stirn zusammengebunden. Die
Kleidung dieser Frau jedoch entbehrte jeden Schmucks. Sie war von einer
schlichten, kalten Strenge. Vor der knienden Gestalt hing ein hölzernes Kreuz
an der Wand, auf dem die Figur eines Mannes sich in Todesqualen wand. Die Augen
der Frau waren auf die Holzfigur gerichtet und leuchteten vor Hingabe. Sie
hatte ihre gefalteten Hände an ihr Kinn gepresst und murmelte leise Worte in
einer unverständlichen Sprache. Ihr Blick war der eines verzückten Mädchens
angesichts des Geliebten.
Stimmen holten
Libussa in die Gegenwart zurück. Im großen Saal musste man bereits aufgetischt
haben, die Spiele und der Gesang hatten begonnen. Auf weichen Knien ging sie
weiter. Es war ihr schon lange nicht mehr geschehen, dass derartige Bilder sie
so deutlich heimsuchten. Und warum sollte Ludmilla Christin werden? Das ergab
keinen Sinn. Libussa schüttelte die Erinnerung an die Gestalt in den dunklen
Kleidern ab wie ein unbequemes Kleidungsstück, um sich ganz ihren Gästen zu
widmen.
Kurz vor dem Korochun-Fest, bei
dem die Wiedergeburt des Gottes Jarilo gefeiert wurde, erschien ein Bote aus
dem Land der Polanen und brachte Nachrichten von Krok. Der Stammesführer war
nach dem Erhalt von Libussas Nachricht über Tyrs Machtergreifung sofort
aufgebrochen, obwohl er bereits an einem Fieber litt. Der schnelle Ritt durch
den Schnee, bei dem er sich kaum Schlaf gönnte, hatte seinen Zustand
verschlimmert. Schließlich zitterte er ohne Unterlass und begann wirr zu reden.
Da er sich nicht mehr auf dem Pferd halten konnte, zogen einige seiner Krieger
los, um Hilfe zu suchen. Zum Glück stießen sie schon bald auf eine Festung, wo
der Stammesführer aufgenommen und gepflegt wurde. Lange war sein Zustand ernst
gewesen, doch mittlerweile schien er außer Gefahr, wenn auch sehr geschwächt.
Die dortige Heilerin wollte ihn nicht ziehen lassen. Libussa gab dem
durchfrorenen Boten einige Tage Zeit, sich auszuruhen, aber dann schickte sie
ihn wieder zu Krok, um dem Stammesführer ausrichten, Tyr sei bereits so gut wie
geschlagen. Der Onkel sollte seine Krankheit ausheilen, bevor er die Reise
fortsetzte. Sie hasste Lügen, doch wem würde es nützen, wenn Krok sich auf dem
Weg nach Chrasten den Tod holte?
Indessen begann
sie mit den Vorbereitungen für das Korochun-Fest. Essen und Getränke mussten
ausreichend zur Verfügung stehen, da die Zahl der Gäste bei dieser Gelegenheit
wohl noch ansteigen würde. Falls das Wetter es nur irgendwie zuließ, war mit
der Anwesenheit aller fürstlichen Clans zu rechnen. Die Schamanen halfen ihr
beim Lernen aller Gesänge und Gebetssprüche. Gefolgt von diesen auserwählten
Männern des Volkes würde sie zu der Statue des doppelköpfigen Veles schreiten,
um ihren Dank für sein erfolgreiches Werben um die Göttin Mokosch zu zeigen.
Indem Veles, der Gott der feuchten, kalten Unterwelt, die Sonnengöttin in sein
Reich lockte und zusammen mit ihr Jarilo zeugte, vollzog sich der jährliche
Wandel der Natur. Jarilo brachte die Erdgöttin Morana, die im Winter zur
unfruchtbaren Greisin geworden war, zu neuem Erblühen. Durch ihn kam der
Frühling in das von Eiseskälte geplagte Land. Sobald die Tage lang und heiß
wurden, feierten Jarilo und Morana die heilige Hochzeit beim Kupala-Fest, was
eine gute Ernte ermöglichte. Morana war ebenfalls ein Kind der Sonnengöttin,
doch war sie mit dem Himmelsgott Perun gezeugt worden. Beide Götter, der Herr
des Himmels und der Herr der Unterwelt, stritten um die Gunst der strahlenden
Mokosch, die sich bei Tagesanbruch Perun und in der Abenddämmerung Veles
zuwandte. Erst die Vereinigung der Nachkommen dieser zwei mächtigen männlichen
Götter konnte Frieden über das Land bringen, Ruhe vor Donner und Sturm, bis zu
dem
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