Die Träume der Libussa (German Edition)
Augenblick, da Morana Jarilo tötete und dadurch wieder in die Unterwelt
verstieß. Dann verwandelte sie sich erneut zur Todesgöttin. Der Winter kam ins
Land. Dies war der ewige Kreislauf, der die Welt zusammenhielt, fest und
unabänderlich, so wie die alten Sitten von Libussas Volk. Diesmal erleichterte
es sie, ihre Aufgaben als Hohe Priesterin zu erfüllen, Teil eines Ganzen zu
sein, das seit Menschengedenken Bestand hatte. Wie sollte Tyr, ein einziger
Mann, es schaffen, eine uralte Ordnung aus den Angeln zu heben, die auch Olgas
Familie zu den Fürsten der Lemuzi gemacht hatte? Jetzt hatte er nicht einmal
mehr Ludmilla in seiner Gewalt, die seine Herrschaft hätte legitimieren können.
In schwere
Felle gehüllt stand Libussa vor dem Schrein, sprach ihre Gebete und tötete die
Opfertiere. Der Wind blies eisig über den Hügel. Auch die hölzerne Umzäunung
des Schreins vermochte ihn kaum aufzuhalten. Sie wusste, dass alle Anwesenden
ihr dankbar sein würden, wenn sie die Zeremonie schnell vollzog.
Danach begann
das Fest auf Chrasten. Radka von den Lukanern saß wieder mit an der großen
Tafel und beteiligte sich an den Würfelspielen. Lecho wich nicht von Irinas
Seite, und die Leitmeritzer-Fürstin blickte zwar mürrisch drein, schwieg aber.
Libussas Zurechtweisung musste Wirkung gezeigt haben. Im Hintergrund erklang
das laute Lachen der Krieger, die mit den Mägden schäkerten. Es schien, als
versuchten alle, die unsichere Lage einen Abend lang zu vergessen. Mit jedem
leeren Krug von Met oder Wein wurde der Gesang vieler Anwesender lauter und
unmelodischer.
Libussa spürte
irgendwann wieder das bekannte Stechen hinter ihren Augen. Sie hätte sich gern
zurückgezogen, bevor der Kopfschmerz sie endgültig überwältigte, aber es wäre
ein Bruch mit den guten Sitten gewesen, ihre Gäste jetzt allein zu lassen.
„Hast du
Neuigkeiten von deiner Schwester Thetka, Fürstin Libussa?“, vernahm sie
plötzlich die Stimme Hostivits von den Zlicany. Seufzend wandte sie sich ihm
zu. Warum musste er sie während des Fests mit einer so unangenehmen Frage
behelligen?
„Nein, aber der
Schnee macht es ihr sicher unmöglich, zu reisen. Sobald Jarilo Morana zu neuem
Leben erweckt, wird sicher ein Bote aus Zabrusany eintreffen“, erwiderte sie so
überzeugt wie möglich.
„Was ist, wenn
deine Schwester nicht wiederkehrt? Wenn sie bereits in Tyrs Gewalt oder gar tot
ist? Der Frühling kann auch Krieger aus Zabrusany nach Chrasten bringen.
Solange Schnee liegt, kommen die Mähren Tyr nicht zu Hilfe. Das müssen wir
ausnützen.“
Sie nickte und
nahm einen weiteren Schluck Wein.
„Sollten die
Mähren in unserem Land auftauchen, um Tyr zu helfen, müssen wir ihnen nur
sagen, dass die rechtmäßige Fürstin der Lemuzi bei uns ist und nichts von Tyr
wissen will. Dann hat er keinerlei Ansprüche auf Zabrusany. Auch die Mähren
kennen unsere alten Sitten. Ludmilla ist die rechtmäßige Nachfolgerin. Nur als
ihr anerkannter Gefährte könnte Tyr von Bedeutung sein.“
Hostivit von
den Zlicany widersprach nicht, doch sie konnte Zweifel in seinem Blick
erkennen. Jene Gedanken, die auch sie selbst manchmal plagten. Was, wenn es den
Mähren nicht auf rechtmäßige Nachfolge ankam, weil Tyr sie durch Versprechungen
für sich gewonnen hatte?
Sie beschloss,
nicht weiter darüber nachzudenken. Hatte ihr die Priesterin der Kelten damals
nicht gesagt, wie wichtig es sei, das Warten zu lernen? Im Augenblick schien es
ihr die schwerste Prüfung, die ihr von den Göttern je auferlegt wurde.
Sie merkte, wie
ihr die Augen zufielen, und schüttelte sich. Vielleicht sollte sie an dem
Würfelspiel teilnehmen, um sich abzulenken, aber sie hatte nie Freude daran
gefunden und außerdem hätte sie sich dann in Slavoniks Nähe begeben müssen. In
letzter Zeit saß er sehr oft mit den Lemuzi-Brüdern zusammen und sie führten
angeregte Gespräche.
Libussa drohte
endgültig einzunicken, da hörte sie den Ruf des Dieners. „Herrin, deine
Schwester ist hier.“
Sie zwang sich,
ihren müden Blick durch den Saal schweifen zu lassen. Kazi hatte offenbar den
Vorzug, dass sie keine öffentliche Rolle einnahm, ausgenutzt und war wieder zu
ihren Tieren verschwunden, denn sie mochte die Gegenwart allzu vieler Gäste
nicht. War sie auf einmal zurückgekommen? Aber warum wurde sie dann
angekündigt?
Wieder schob
sich ein Bild vor Libussas Augen. Sie sah die Klinge eines Messers in eine
menschliche Kehle schneiden wie bei einem Tier, das geschlachtet wurde.
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